Warum gelingt es uns nicht schnell und effektiv auf Krisen zu antworten? Wieso fallen uns Veränderungen so schwer? Wieso handeln wir auch in solchen Situationen nicht oder nur mit großen Verzögerungen, in denen der Verstand uns eindeutig eine Richtung vorgibt? Fragen rund um die „response- ability“, unsere Fähigkeit adäquat auf Entwicklungen des Lebens zu antworten, beschäftigen Bettina und mich sehr.
Der schottische Neurowissenschaftler und Philosoph Iain McGilchrist hat auf diese Fragen in seinem Monumentalwerk The Matter With Things faszinierende Antworten gefunden, die ich in vier Blogposts (Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4) zusammengefasst und reflektiert habe. Seine Grundthese lautet, dass wir spätestens seit der Aufklärung der (atomisierenden, mechanischen) Wahrnehmung der linken Gehirnhälfte den Vorzug gegeben und darüber die Perspektive der (organischen, kontextuellen) rechten Gehirnhälfte vernachlässigt haben.
In meinen Artikeln über The Matter With Things schrieb ich, dass die Thesen und Beweisführungen von McGilchrist zwar faszinierend sind, seine Ausführungen über die Wurzel der beschriebenen Imbalance zwischen den Gehirnhälften für uns jedoch unbefriedigend sind, da sie die Rolle von Trauma ignoriert.
In diesem Blogpost möchte ich diesem Thema ausführlicher nachgehen und werde dafür auf Passagen aus unserem Buch Die Entfaltete Organisation eingehen, da wir uns dort mehrfach damit beschäftigen, wie Trauma unsere Repsonse-ability verzögert.
Zwei Formen von Zukunft: Push und Pull
In Die Entfaltete Organisation unterscheiden wir zwischen zwei Formen von Zukunft: Die eine basiert auf Push-Faktoren, die andere auf Pull-Faktoren. Push-Faktoren drücken uns aus der Vergangenheit in etwas Neues. Wir verändern etwas, weil wir einen Leidensdruck empfinden und versuchen die Versäumnisse und Verstrickungen der Vergangenheit aufzuräumen. Pull-Faktoren dagegen ziehen uns aus der Zukunft. Dabei lassen wir uns von Purpose als Magnet, Polarstern oder Orientierung in eine neue evolutionäre Bewegung hineinziehen. (Mehr zu unserem Verständnis von Purpose findet ihr hier). Während „Push-Zukunft“ die Vergangenheit fortschreibt, stellt die „Pull-Zukunft“ etwas wirklich Neues da.
In vielen Lebensbereichen folgt das, was wir heute machen, unweigerlich dem, was gestern war. Wir bezeichnen das dann je nach Sprachduktus als Pfadabhängigkeit oder Schicksal. Sie entstehen, wenn wir festgelegte Muster haben, die uns keine Wahl lassen, anders zu handeln als auf determinierte Weise. Wir alle kennen Situationen, in denen das der Fall ist. Im Privatleben erleben Menschen beispielsweise, dass sie immer wieder die gleichen Partner anziehen, die ihnen nicht guttun. Aber selbst wenn sie intellektuell ihre Muster kennen, wiederholen sie sie. Auch im Unternehmensalltag dominieren die Standards von gestern die Abläufe von heute, selbst wenn wir wissen, dass sich die äußeren Umstände völlig geändert haben. Festgefahrene Muster geben uns zwar viel Sicherheit, sie erweisen sich aber gerade in Zeiten des exponentiellen Wandels als hemmend oder gar existenziell bedrohlich. Und dennoch scheinen wir ihnen nicht entkommen zu können.
Die gleiche Mechanik sehen wir gegenwärtig in allen Lebensbereichen: intellektuell wissen wir ( jedenfalls die meisten von uns), dass die Klimakatastrophe, die wachsende soziale Ungleichheit oder die Burnout-Epidemie neue Formen des Wirtschaftens, Regierens und Seins brauchen. Aber wir sind nicht fähig, zeitnah adäquate Antworten auf diese Entwicklungen, die unmittelbar unsere Existenz und unser Wohlbefinden bedrohen, zu entwickel
Trauma reduziert Beweglichkeit
Wieso gelingt es uns nicht, unser Verhalten anzupassen? Uns dynamisch mit äußeren Veränderungen auch im Inneren zu bewegen? Dem Leben so zu begegnen, wie wir es gerade in dieser Minute wahrnehmen? Um dies zu verstehen, hilft ein kleiner Abstecher in die moderne Traumaforschung.
Unter Trauma verstehen Psychologen wie Gabor Maté (2021) oder Peter Levine (2015) die bleibenden Folgen eines überwältigenden Ereignisses, welches das autonome Nervensystem nicht adäquat verarbeiten, also nicht durch sich durchlaufen lassen konnte. Stattdessen bleibt der überwältigende Impuls im Nervensystem als gefrorene Erregung stecken. In der Folge verliert der Mensch in diesem Bereich seine Resonanzfähigkeit. Er kann mit der Außenwelt nicht mehr dynamisch mitschwingen. Zum Zeitpunkt seiner Entstehung ist Trauma eine gesunde Schutzreaktion des Nervensystems. Später aber hindert sie uns an unserer organischen Weiterentwicklung, denn in den Bereichen, in denen wir emotional gefroren sind, sehen wir die Außenwelt nicht so, wie sie gerade ist. Sondern wir interpretieren sie durch den starren Filter der Vergangenheit.
Traumatisierten Menschen, und das sind wahrscheinlich die meisten unter uns, fällt es schwer, sich auf Neues einzulassen. Neue Informationen verlangen von uns, dass wir die Identifikation mit dem Alten, das uns Sicherheit gibt, aufgeben. Da bleiben wir lieber beim Gewohnten, auch wenn es für die aktuelle Situation unpassend oder gar gefährlich ist. Auf diese Weise schränkt Trauma unsere Adaptionsfähigkeit stark ein. Das Leben bewegt sich, wir Menschen aber bleiben eingefroren und können mit der äußeren Entwicklung nicht mithalten. Anders formuliert: Trauma verhindert, dass wir uns auf die Gegenwart ganz und gar einlassen und uns von ihr informieren lassen. Insofern fällt es den meisten von uns auch schwer, adäquat auf neue Impulse in der Außenwelt zu reagieren, uns und unsere gesellschaftlichen Strukturen dynamisch zu verändern.
Wenn wir uns also eine Gesellschaft vorstellen, in der viele Menschen aus der Gegenwart heraus Neue Impulse empfangen und umsetzen (indem sie mit ihrem Purpose in Verbindung stehen), dann bedeutet das, dass wir uns mit Trauma und Heilung, mit Schatten und Integration beschäftigen müssen.
Die Wunden der Vergangenheit
In unserer hyperindividualisierten Eigenwahrnehmung ignorieren viele von uns die Wunden unserer Kindheit und unserer Ahnenreihe. Selbst wenn unsere Eltern es gut mit uns meinten, haben die durchschnittlich 25.000 Stunden, die wir in ihrer Gegenwart verbracht haben, bleibende Spuren und Schäden uns als Individuen hinterlassen. Dazu kommen kollektive Traumatisierungen, die auf den Verletzungen und Blockaden unserer Vorfahren beruhen. In Deutschland sind diese kollektiven Traumatisierungen besonders greifbar, waren unsere Eltern und Großeltern doch Mittäter:innen und Zeug:innen unfassbarer Verbrechen, allen voran des Holocausts. Unfähig die Grauen adäquat zu verarbeiten, schlugen sie sich in Form von emotionaler Taubheit, Sprachlosigkeit und Depressionen, aber auch Gewalt und Aggressionen nieder. Diese wurden unweigerlich auch auf die Kinder und Enkelkinder übertragen – siehe dazu die spannenden Bücher der Psychotherapeutin Sabine Bode, Kriegskinder und Kriegsenkel.
Therapeut:innen sind sich bewusst, dass die Innenwelt eines Menschen maßgeblich seine Erfahrung der Außenwelt beeinflusst. Daraus folgt, dass wir Aspekte, die wir in uns selbst nicht wahrnehmen können, auch im Außen exkludieren müssen. An diesen Stellen können wir keine Empathie empfinden, sind von Komplexität überfordert und in Krisenzeiten nur eingeschränkt resilient. In unserem Zusammenleben drückt sich unsere innere Ausgrenzung und Überforderung in Benachteiligung und struktureller Diskriminierung aus. Angesichts der aktuellen Stapelkrisen führen Traumatisierungen dazu, dass viel Potenzial, das für Antworten genutzt werden könnte, brach liegt.
Statt sich zusammenzuschließen, gemeinsam nach Orientierung zu suchen und Gesellschaft co-kreativ zu gestalten, verbleiben viele Menschen in sich isoliert. Sie fühlen sich desorientiert und von Gefühlen wie Scham, Angst oder Neid überwältigt. Kurz: Unfähig dynamisch auf Veränderungen und neue Impulse einzugehen. Statt dessen reproduzieren wir dort, wo wir aufgrund von Traumatisierung bestimmte Dinge nicht wahrnehmen können, zwangsläufig die uns bekannten Muster. Daraus folgt in den Worten des Mystikers Thomas Hübl, dass „unser Morgen nicht mit unserer Zukunft gleichzusetzen ist“ (Our tommorrow is not necessarily our future). Bei vielem, was wir morgen machen werden, handelt es sich um eine Verlängerung der Vergangenheit und nicht um wirkliche Zukunft.
Integration und Heilung
Die hier dargelegte Perspektive widerspricht McGilchrists Forschung nicht. Sie sieht aber Trauma als maßgebliche Ursache für die Imbalance zwischen den Gehirnhälften an. Ebenso wie McGilchrist glauben auch wir daran, dass nur eine “neuronale Ganzheitlichkeit” und eine neue Wertschätzung der Qualitäten der rechten Gehirnhälfte für eine ganzheitliche Weltsicht notwendig sind.
Folgen wir dem Traumaansatz, dann müssen wir uns als Gesellschaft um kollektive Traumatisierungen kümmern, d.h. eine Sensibilität für die Verzerrungen unserer gesellschaftlichen Strukturen entwickeln und uns um Therapie, Integration und Heilung bemühen. Ein möglicher Weg ist die Arbeit des Pocket Projects, an dem auch wir Autorinnen beteiligt sind. Darüber hinaus können wir alle Bereiche unseres Lebens, von Politik über Wirtschaft bis Bildung trauma-informiert gestalten. Wie dies konkret aussieht, das müssen wir in den nächsten Jahren gemeinsam herausfinden und so unsere festgefahrene Welt wieder verflüssigen.
Die entfaltete Organisation: Mit Inner Work die Zukunft gestalten
Nur drei Jahre nach dem Erscheinen von New Work needs Inner Work leben wir in einer Welt, die nicht nur komplexer, sondern auch wesentlich unsicherer ist. Inmitten von Stapelkrisen brauchen wir mehr denn je neue Kompetenzen und innere Klarheit. Unsere aktuellen Herausforderungen sind Ausdruck eines tiefgreifenden Paradigmenwechsels. Dadurch verändert sich die Welt der Arbeit, aber auch die Gesellschaft als Ganze. Wie können wir in unseren Organisationen und Unternehmen die Selbstentfaltung der Welt begleiten und fördern? Und welche Rolle spielt Inner Work für die Gestaltung unserer Zukunft?