Wir stecken fest. In einer fragmentierten Sicht auf die Welt. Teil 2

Diese Grafik wurde mit Midjourney generiert

Im letzten Blogpost beschrieb ich das Dilemma des Festgefahren-Seins, der Unfähigkeit, adäquat und schnell sich auf die Gegenwart und ihre Bedrohungen einzustellen. Ich zeichnete zugleich das Potential digitaler Dynamiken, die Welt flüssiger und flexibler zu machen. Qualitäten, die der Realität mehr entsprechen, als unsere weitverbreitete Vorstellung einer Welt, die aus fester Materie besteht.

Diese sehr grundsätzlichen Fragestellungen bezüglich der Grundlagen unserer Realität interessieren mich im Zusammenhang mit Bettinas und meinem neuen Buch Die Entfaltete Organisation. Mit Inner Work die Zukunft gestalten. Dort beschreiben wir zwei unterschiedliche Herangehensweisen an Führung und Zusammenarbeit, Leben und Gesellschaft: wir können uns auf die äußere sichtbare Form unseres eigenes Lebens, unser Organisation und unser Gesellschaft beziehen. Und wir haben zugleich die Möglichkeit diese von Innen, subjektiv erfahrend, zu erfassen. Uns beschäftigt, wie diese beiden Dimensionen – Innen und Außen – zusammenhängen. Wir konstatieren, dass die meisten Menschen sich sehr viel mehr mit dem Außen identifizieren und dieses als real und wichtig ansehen. So verändern Unternehmen im Zuge von Change-Prozessen fast ausschließlich ihre Strukturen und Prozesse und ignorieren weitgehend die inneren Dimensionen – Haltung, Prägung, Bedürfnisse, aber auch Kultur und Kommunikationsmuster. Doch jede gelungene Transformation, so Bettinas und meine These – muss beide Dimensionen des Lebens in den Blick nehmen. Wir gehen sogar einen Schritt weiter und stellen fest, dass wirklicher Wandel nur durch eine Verfeinerung der Innenansicht mit Hilfe von Inner Work stattfinden kann. Erst wenn Menschen feststellen, dass ihre subjektive Erfahrung der Welt in dem bestehenden Paradigma keinen Sinn mehr macht und neue Werte und Erfahrungen am inneren Horizont auftauchen, werden sie auch im Außen neue Schritte gehen und eine neue Zukunft gestalten können.

In diesem Blogpost möchte ich die verschiedenen Perspektiven der Außen- und Innensicht tiefer beleuchten und eine interessante Hypothese verfolgen, wieso wir das Außen dem Innen so weit vorziehen.  

Zwei Gehirnhälften – Zwei Perspektiven auf Welt

Um zu verstehen wie es dazu kam, dass die meisten von uns ein dualistisches Weltbild haben und davon ausgehen, dass die Welt „dort draußen“ aus Materie besteht, die wir „von innen“ mit unseren Sinnen wahrnehmen können, liefern die Arbeiten des schottischen Neurologen, Psychiaters und Universalgelehrten Iain McGilchrist eine faszinierende Lektüre. In zwei monumentalen Werken, The Master and his Emissary (2009) sowie The Matter with Things (2021), führt McGilchrist unsere Weltsicht darauf zurück, dass wir die Wahrnehmungen der linken Gehirnhälfte, den Wahrnehmungen der rechten bevorzugen. Das Resultat ist eine stark verkürzte, verarmte Perspektive auf Realität.

Dabei vertritt McGilchrist nicht die frühere, scherenschnittartige und inzwischen widerlegten These, der zufolge die linke Hemisphäre für Logik und Sprache, die rechte für Gefühle und Bilder zuständig sei. Heute wissen wir, dass beide Gehirnhälften in alle Prozesse involviert sind. Sie unterscheiden sich jedoch grundlegend darin, WIE sie die Welt sehen. 

Ihren Ursprung haben die beiden Gehirnhälften sehr wahrscheinlich in dem Dilemma aller lebenden Wesen: Nahrung zu finden, ohne selbst gegessen zu werden. Die linke Hemisphäre spezialisierte sich darauf Beute zu finden, während die rechte damit beschäftigt war sich davor zu schützen, selbst zur Beute zu werden. Ausgehend von dieser Arbeitsteilung entwickelten sich eine große Bandbreite von Besonderheiten, die durch umfangreiche neurologische Studien belegt sind. Die Vielfalt der empirischen Belege ist faszinierend. Zum Teil stammen sie von Menschen, deren eine Hirnhälfte beschädigt ist, sei es von Geburt oder durch Schlaganfälle, Verletzungen etc.. In anderen Fällen handelt es sich um Split-Brain Patienten, bei denen der Corpus Callosum, die neuronale Verbindung zwischen den zerebralen Hemisphären, durchtrennt wurde. Insgesamt bezieht sich McGilchrist auf Tausende von Studien und Fällen.

Wie also unterscheiden sich die beiden Perspektiven? Die linke Hemisphäre konzentriert sich auf Details. Sie fokussiert feste, vertraute, abstrakte und meist unbelebte Dinge. Sie ist nach außen gerichtet, mental und wenig verkörpert, vereinfacht statt komplex und denkt in oppositionellen Begriffen: entweder dies oder das. Ihre Aufmerksamkeit ist wie der gebündelte Strahl einer Taschenlampe.

Im Gegensatz dazu gleicht die rechte Hemisphäre einem Flutlicht: Sie sieht das ganze Bild, inklusive den Zusammenhängen und Zwischenräumen zwischen einzelnen Elementen. Sie reagiert sensibel auf Bewegungen. Auf das, was sich verändert und das, was fehlen könnte. Sie ist in der Komplexität der Welt zuhause und denkt in komplementären Begriffen: dies und das, sowohl als auch.

Während die linke Hemisphäre die Welt vereinfacht und manipuliert – sie steuert die rechte Hand –, ist es die Aufgabe der rechten Hemisphäre, sie zu verstehen.

Für die linke Gehirnhälfte besteht die Welt aus Dingen, aus statischen, isolierten Fragmenten, die mechanisch zusammengesetzt werden können. Sie interessiert sich dafür, was eindeutig eingeordnet, quantifiziert und offensichtlich nützlich ist. Ihre Stärke liegt darin, die Umwelt zu manipulieren, Aufgaben zu erledigen. Sie re-präsentiert die Welt mit Hilfe von Sprache und Konzepten.

Die rechte Gehirnhälfte wiederum nimmt Impulse ungefiltert wahr – sie hat einen direkten Zugang zur gelebten Erfahrung und Präsenz. Die Welt ist für sie voller Bewegung, Kontinuität und Ambivalenz. Ihr Schwerpunkt liegt in den Aspekten, die wir nicht quantifizieren können, wie Liebe, ästhetischer Genuss und Emotionen. Die linke seziert und analysiert und ist in der Wissenschaft verankert, die rechte konzentriert sich auf die Erfahrung, Sinn, Bedeutung und drückt sich in Bereichen wie den Künsten und Spiritualität aus.

Als ganzer Mensch auftreten

McGilchrist zitiert Erich Fromm’s Unterscheidung zwischen zwei unterschiedlichen Formen des Seins, dem „brain self“ (linke Gehirnhälfte) und dem „whole self“ (rechte Gehirnhälfte). Er schreibt: „The full experience only exists up to the moment when it is expressed in language … words take more and more the place of experience. Yet the person concerned is unaware of this. When he thinks he grasps reality, it is only his brain-self that grasps it, while he, the whole man, his eyes, his hands, his belly, his heart … grasp nothing. In fact, he is not participating in the experience which he believes is his“. Sprache und Konzepte frieren den kontinuierlichen Fluss von Prozessen, die eigentlich beweglich und dynamisch sind, ein und machen sie dadurch manipulierbar. 

Die Unterscheidung passt zu Frederic Laloux’s These, dass Mitarbeiterinnen in selbstorganisierten Unternehmen als „ganze Menschen“ auftreten können,  d.h. sich mit mehr zeigen, als nur ihren mentalen Fähigkeiten. Dazu passend sprechen wir in Der Entfalteten Organisation von dem so genannten „4-Sync“,. Der Fähigkeit, sich selbst auf vier verschiedenen Ebenen wahrzunehmen: der körperlichen, emotionalen, mentalen und inspirativen Ebene. Diese ganzheitliche Wahrnehmung erweitert unsere (meist sehr mental geprägte) Informationsbasis um ein vielfaches. Sie gibt dem Einzelnen Sicherheit,  Orientierung und Inspiration und ist zugleich der notwendige Nährboden für einen vertrauensvollen Beziehungsraum in Teams

Aufmerksamkeit bestimmt, was wir sehen

Die Unterschiede zwischen dem brain self und dem whole self kann ich in mir selbst deutlich wahrnehmen. In meinem Elternhaus, der Schule ebenso wie später an der Universität und in meinem Beruf, konzentrierte ich mich darauf, die Welt zu analysieren, zu de-konstruieren und kognitiv zu verstehen. Das, was präzise in Worte gefasst werden konnte, empirisch wissenschaftlich erforscht werden konnte, hatte Gewicht und erschien mir „real. Alles andere, die Beschäftigung mit Kunst und Literatur, Besuche von Museen, Konzerten, sinnliche Aktivitäten wie Sport und Essen, schob ich in den Bereich der Freizeit ab. Mein Kontakt mit der Welt war weitgehend intellektuell, andere Zugangsweisen stufte ich (weitgehend unbewusst) als minderwertig und zweitrangig ein.

Haben wir uns einmal auf eine bestimmte Art der Wahrnehmung und Weltsicht eingelassen und unsere Identität damit verknüpft (z.B. in dem man schnell und schlau ist), dann verstärkt sich diese einmal gewählte Tendenz mit der Zeit immer mehr. Denn Aufmerksamkeit verändert die Welt. Wie wir sie betrachten, verändert das, was wir vorfinden. Was wir wiederum vorfinden, bestimmt die Art der Aufmerksamkeit, die wir auch zukünftig für angemessen halten. Dementsprechend ist für McGilchrist unsere Ausrichtung auf die Welt, der ultimative schöpferische Akt: Unsere Wahrnehmung hat Konsequenzen, denn sie macht die Welt zu dem, was sie ist.

Fokussieren wir uns beispielsweise auf die Liebe, so sagt der französische Philosoph Louis Lavelle, schenken wir unsere kostbarste Aufmerksamkeit der Existenz des Anderen. Wenn wir uns andererseits angewöhnt haben die Welt als entfremdet und fragmentiert zu betrachten, neigen wir dazu Manifestationen wie Kunst, Liebe, Humor oder Religion zu Nebensachen zu reduzieren, oder ganz in Frage zu stellen. So können wir uns einerseits von einem Musikstück oder Gedicht ganz berühren lassen, oder es andererseits auf seine formalen Bestandteile, Theorien und Botschaften reduzieren. 

Nun ist es nicht leicht, sich bewusst zu machen, wie die eigene Aufmerksamkeit die Welt formt. Es ist ein Teufelskreis: Je mehr man den mechanistischen, entmenschlichenden Aspekten Beachtung schenkt, desto mehr tritt der Rest in den Hintergrund. Die Art und Weise, wie wir beginnen, die Welt zu betrachten, verhärtet sich, und nach einer Weile scheint jedes Modell überraschend gut zu passen; vor allem, weil alles, was nicht in das Modell passt, auf hilfreiche Weise unsichtbar wird.

Die durchgängige Botschaft von The Matter with Things ist, dass die rechte Gehirnhälfte ein zuverlässigerer Zugang zur Realität ist als die linke. Die rechte Gehirnhälfte verfügt über eine größere Aufmerksamkeitsspanne, nimmt genauer wahr, fällt zuverlässigere Urteile und trägt mehr zur emotionalen und kognitiven Intelligenz bei als die linke. Die rechte Hemisphäre ist für den wichtigsten Teil unserer Fähigkeit, die Welt zu verstehen, verantwortlich, sei es durch Intuition und Vorstellungskraft. Sie kann besser mit Paradoxien umgehen, hat ein tieferes Verständnis von Raum, Bewegung und Zeit und bestätigt die Erkenntnisse der modernen Physik (und der gesamten Philosophie mit Ausnahme der angloamerikanischen analytischen Tradition, die selbst ein stark links-hemisphärisch geprägtes Projekt ist). Sie ermöglicht uns einen Zugang zu fundamentale Werte wie Güte, Schönheit und Wahrheit. 

Die linke Gehirnhälfte hat ihrerseits absolute Stärken und ist bestens dafür gerüstet Teile zu analysieren, Verfahren zu verfolgen, Ergebnisse in Sprache darzustellen. Alles Prozesse, die das Bekannte, das Gewisse, das Fixe, das Partielle, das Explizite, das Abstrakte, das Allgemeine, das Quantifizierbare, das Unbelebte, re-produzieren können.

Der große Fehler der letzten 150 Jahre, so McGilchrist, bestand darin die Qualitäten der linken Gehirnhälfte für eine Aufgabe zu nutzen, für die sie absolut ungeeignet ist: nämlich das Unbekannte, Fließende, Lebendige, das Ganze und Kontextuelle, das Qualitative und Einzigartige, zu erforschen.

Im Idealfall  tragen beide Gehirnhälften mit ihren Perspektiven zum Verständnis der Welt bei. (Wie genau diese Abfolge in gesunder Form aussieht, werde ich später in Bezug auf kreative Prozesse genauer beschreiben).

Doch die westliche Zivilisation hat seit Platon und vermehrt noch während der letzten 150 Jahre die linke Gehirnhälfte gegenüber der rechten maßlos bevorzugt. Im Zuge der Industriellen Revolution und dem Aufstieg der Wissenschaften wurde die linke Gehirnseiten-Perspektive zur einzig gültigen erkoren. Die Naturwissenschaften kategorisieren alle anderen Bereiche von Erfahrungen als unzulässige Beweise. Nur noch das, was gemessen werden konnte, galt (und gilt bis heute) ist real. Dies ist in der Wirtschaft und im Management nochmals ausgeprägter als in vielen anderen Bereichen. Sinnliche Wahrnehmungen gelten wenig, abstrakte Vorstellungen viel.

Dabei sind Sinneseindrücke, so schrieb schon der amerikanische Philosoph und Urvater der Psychologie William James, die einzigen Realitäten, die wir jemals direkt wahrnehmen können. Indem wir kontinuierlich versuchen unsere Sinneseindrücke durch begriffliche Konzepte zu ersetzen, reduzieren wir unsere Realität auf katastrophale Weise.

Diese Bevorzugung der Weltsicht der linken Gehirnhälfte macht McGilchrist für die heutigen Metakrisen verantwortlich. Denn die Aufgabe der linke Gehirnhälfte ist eigentlich die, Detailinformationen bereitzustellen, die dann von der rechten Gehirnhälfte in den größeren Kontext gestellt und mit Sinn versehen werden. Die rechte Gehirnhälfte ist die eigentliche Meisterin, die linke nur ihr Gehilfe

Katastrophale Folgen des Ungleichgewichts

Viele neurologische Studien belegen, dass die linke Gehirnhälfte sich notorisch überschätzt, während die rechte sensibel für Gefahren ist. So weiß bezeichnenderweise ein Mensch, dessen linke Hemisphäre durch einen Schlaganfall beeinträchtigt ist, dass er einen gelähmten Arm hat. Im Gegensatz dazu bemerkt jemand mit einer defekten rechten Gehirnhälfte den Schaden gar nicht und geht davon aus, dass alles in bester Ordnung sei. Die linke Gehirnhälfte, mit ihrer fokussierten Wahrnehmung ist sich nicht bewusst, wieviel Realität sie ausblendet. 

Im Zuge unser einseitigen Ausrichtung auf die Perspektive der linken Gehirnhälfte haben wir, so McGilchrist, den Sinn für das große Ganze verloren, was zur Verwüstung des Planeten, zur Ausbeutung ärmerer Nationen und zur Auslöschung der Lebensweise der indigenen Völker führt. Der soziale Zusammenhalt bricht angesichts des atomistischen Individualismus zusammen, und wir erleben eine Epidemie von Depression, Angst und Einsamkeit. Ohne Einbeziehung des Kontextes vernachlässigen wir alles Implizite, obwohl dies viel mehr Realität abdeckt.”Das was” triumphiert über das “wie”, das Ziel über die Mittel.

Wir sind in Schwarz-Weiß-Urteilen und einer Tyrannei des buchstäblichen Denkens gefangen, die unsere Fähigkeit beeinträchtigt, Metaphern, Humor und Ironie zu verstehen. Produktivität triumphiert über Kreativität. Wir tun so, als sei unsere hektische Betriebsamkeit ein Zeichen von Lebendigkeit, dabei ist sie nur die Verzweiflung von orientierungslosen Menschen, die in einen Wettbewerb verstrickt sind, aus dem sie nicht herausfinden und der die Welt zerstört. Und all dies wird begleitet von einem blinden Optimismus, der aus der Verleugnung der Konsequenzen geboren wird. Jeder Aspekt davon spiegelt den Modus Operandi der linken Gehirnhälfte.

Der Philosoph und Theologe Paul Tillich fasste unser Dilemma so zusammen: Der moderne Mensch verwandelt alles, was ihm begegnet, in ein Werkzeug und wird dabei selbst zum Werkzeug. Aber wenn er sich fragt, wofür das Werkzeug nützlich ist, kennt er keine Antwort.

Exklusion und Inklusion

Die linke Gehirnhälfte schließt also weite Aspekte der Realität aus, was zu einer (aus ihrer Sicht) „objektiven“ Sicht führt, die „errechnet und gemessen“ werden kann, die aber stark verarmt und sinnentleert ist.

Vieles von dem, was wir heute als erfolgreich ansehen, so der moderne Mystiker Thomas Hübl, basiert auf Exklusion. Während sie die Umwelt zerstören und Menschen ausbeuten, feiern Unternehmen ihre wirtschaftlichen Erfolge. Während Machthaber Kriege gewinnen, verlieren Zigtausende oder gar Millionen von Menschen ihr Leben. Während Einzelpersonen ihre Karrieren verfolgen, blenden sie wichtige Aspekte ihrer eigenen Persönlichkeit ebenso aus, wie Fragen nach Gerechtigkeit und Anerkennung in ihren Teams.

In wieweit Erfolg in unserer heutigen Gesellschaft darauf aufbaut, dass wir große Teile der Welt ausblenden, wird durch zwei schöne Geschichten deutlich, die von dem Schweizer Politiker Lukas Fiertz zusammengetragen wurden.

Die erste handelt von C.G. Jung und dem Pueblo Chef Mountain Lake. Der weiße Mann, so erklärte der Chief C.G. Jung, sei dem Untergang geweiht. Wieso?, fragte der Psychologe. Daraufhin nahm der Chief beide Hände vor die Augen und bewegte die ausgestreckten Zeigefinger auf einen Punkt vor sich: “Weil der weiße Mann nur auf einen Punkt schaut und alle anderen Aspekte ausschließt.“ Die zweite Geschichte erlebte Fiertz selbst einige Jahre später. Er fragte einen extrem reichen Schweizer Industriellen, was der Grund für seinen unglaublichen unternehmerischen Erfolg sei. Daraufhin nahm der Milliardär beide Hände vor die Augen und bewegte die ausgestreckten Zeigefinger konvergent auf einen Punkt vor sich zu und sagte: “Weil ich mich nur auf einen Punkt konzentrieren kann und alle anderen Aspekte ausschließe”.

Die entfaltete Organisation und Gesellschaft

Wenn wir McGilchrist’s Ausführungen auf unsere eigene Arbeit beziehen, dann sehen wir viele Parallelen. Das, was für den Neurologen eine Reduzierung auf die linke Gehirnhälfte ist, beschreiben wir mit Hinweis auf Ken Wilber’s Vier-Quadrantenmodell, als Fokus auf das Außen. In Unternehmen überwiegen objektiv beobachtbare, feste Strukturen und Prozesse, Verfahren, Abläufe und Regeln. Managementsprache, Theorie  und Praxis, versuchen möglichst vieles konkret und explizit zu benennen und misstrauen dem sinnlich und subjektiv erfahrbaren. Sie bevorzugen Substantive gegenüber Verben, passive Formulierungen gegenüber aktiven. Sie verdinglichen eigentlich fluide Bewegungen. Diese Verdinglichung ist zwar unabwendbarer Teil einer analytischen Sprache. Doch haben wir diese mittlerweile so verinnerlicht, dass wir uns gar nicht mehr bewusst machen, dass wir damit nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit erfassen können. 

Die inneren Dimensionen des Vier-Quadrantenmodells haben wir im Umkehrschluss stark vernachlässigt und abgewertet. Uns fehlt eine vergleichbar anerkannte Sprache und Weise, um innerlich erfahrbare Wahrnehmungen zu beschreiben. 

 

 

 

Mit unserer Arbeit rund um Die entfaltete Organisation versuchen wir den Schritt nachzuvollziehen, den auch McGilchrist einfordert: eine ganzheitlichere Perspektive auf die Welt zu entwickeln, in der Innen und Außen den ihnen gebührenden Platz einnehmen können. Auch für uns hat die innere Dimension das meiste Gewicht. Denn ich kann immer nur das im Außen wahrnehmen und gestalten, was ich im Inneren sehen und fühlen kann. 

Auf dem Weg in eine entfaltete Organisation (und Gesellschaft) müssen wir uns bewusst machen, was wir bislang ausgeschlossen haben. Denn die Realität ist ganz und will als solches wahrgenommen werden. Ausgeschlossene Teile – zarte und verletzbare Anteile in uns Menschen, strukturell diskriminierte Gruppen in der Gesellschaft, ebenso wie  die verwüstete Natur – drängen darauf gesehen und einbezogen zu werden. 

Unsere Chance besteht darin, mehr innere Aspekte vom Leben mit einzubeziehen und auf einer ganzheitlicheren Lebenserfahrung neue äußere Strukturen und Prozesse, Institutionen und Gesetze, Lebensformen und Geschäftsmodelle zu entwickeln, die ebenfalls mehr Realität miteinbeziehen. 

Die von McGilchrist zusammengetragene Forschung bietet einen faszinierenden Einblick in mögliche Ursachen der aktuellen bedrohlichen Stapelkrisen. Während er die Imbalance zwischen den Gehirnhälften heranzieht, verfolgen wir, Thomas Hübl und der jüngsten Traumaforschung folgend, einen anderen kollektiv-psychologischen Ansatz, der Traumata in den Mittelpunkt stellt. Auf dieses Thema werden wir in einem späteren Blogpost zurückkommen). Im Rahmen dieser Artikelserie verbleiben wir jedoch bei McGilchrist und wenden uns einzelnen inneren Kompetenzen zu: Kreativität und Intuition, Purpose und Werten, zu. 

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