Beziehungsfähigkeit und Multiperspektiviität
In diesem Webinar erforschen wir mit unseren Teilnehmerinnen unser Verhältnis zu Beziehungsfähigkeit und Multiperspektivität, zwei essentiellen Inner Work Kompetenzen. Dabei stellen wir uns der Tatsache, dass es für die meisten von uns schwer ist, sich auf Menschen zu beziehen, die sehr andere Perspektiven, Haltungen und Verhaltensweisen haben, als wir selbst. Deshalb stellen wir uns die Frage: Wie anders dürfen die Anderen wirklich sein, damit ich ihnen offen und konstruktiv begegnen kann? Bzw. wo stoße ich auf Grenzen in mir, die dazu führen, andere als “falsch” abzulehnen?
Im ersten Teil beschreibe ich, Joana, wieso Empathie und Multiperspektivität überhaupt in unserer (Arbeits)Welt so wichtig sind. Denn gerade in agilen Teams ist Beziehungsfähigkeit der Klebstoff, der Teams zusammen hält und sie ihre Arbeit miteinander gestalten läßt. Aber auch in größeren gesellschaftlichen Fragen sehen wir, das wir nur sinnvolle, tragfähige Lösungen entwicklen können, wenn wir möglichst viele Perspektiven auf das Leben miteinbeziehen. Denn die Tatsache, dass nur eine sehr begrenzte Auswahl von meist privilegierten Männern/Menschen unsere gegenwärtigen Strukturen geschaffen hat, hat genau zu den Stapelkrisen geführt, die uns alle bedrohen.
Wir beschreiben die Grundprinzipien von Beziehungsfähigkeit und Empathie nach Thomas Hübl mit einem Dreiklang:
Ich fühle mich.
Ich fühle Dich.
Ich fühle, dass Du mich fühlst.
Daraus folgt auch, dass ich andere Menschen nur an den Stellen fühlen kann, die mir auch in mir selbst zugänglich sind. Wenn ich meine Wut verschlossen habe, wird es mir also auch schwerfallen Wut in anderen zu erkennen und anzuerkennen. An dem Punkt, an dem jemand anders nicht in mir auftauchen kann. kann ich mich auch nicht auf mich selbst beziehen.
In Bezug auf Multiperspektivität geht es darum, andere Perspektiven zuerst einmal stehen zu lassen und zu verstehen. Aber sehr oft bewerten wir andere Sichtweisen und Verhaltensformen spontan und reaktiv als “richtig” oder “falsch”. Was hilft uns Dinge stehen lassen zu können und sie zuerst eina
mal nur als “anders” zu akzeptieren? Wie können wir unseren Innenraum so vergrößern, dass wir mehrere Perspektiven gleichzeitig in uns beheimaten können? Dies bedeutet ja nicht, sie unreflektiert gut zu heißen, sondern es kann gut sein, dass ich meinem Gegenüber sehr genau zuhöre und seine Sicht auf ein Thema (Corona/ Klima/ Hierarchien/ eine Entscheidung in unserem gemeinsamen Projekt etc.) in mir auftauchen lassen kann und dennoch – danach – eine klare eigene Meinung zu äußern oder eine Grenze zu setzen. Ich schließe damit, dass der Grund, dass Andersartigkeit uns so oft triggert, viel mit unserer eigenen psychologischen Sicherheit zu tun hat.
Die tieferen Prozesse hinter Othering
Bettina greift dann den Faden nochmal auf und beschreibt die tieferen Prozesse die hinter “Othering” liegen, d.h. dahinter, dass ich jemand anderen als “fremd”, “falsch” etc. bewerten muss.
Unsere Arbeitshypothese ist dabei, dass mein eigener Körper sich in den Momenten, die ich mit jemand anderem als “schwierig”, “unangenehm” und “falsch” empfinde, “schwierig”, “unangenehm” und “falsch” anfühlt. In mir taucht ein Gefühl auf, mit dem ich mich selbst nicht mehr gut verbinden kann. Wenn ich getriggert werde, weiss ich nicht, wie ich mich auf mich in diesem unangenehmen Zustand beziehen soll. Wir sagen dann oft: “ich kann mich auf Dich nicht beziehen, ich verstehe Dich nicht etc.”. Aber in einem ersten Schritt kann ich mich auf MICH nicht mehr beziehen. Der Kontakt zu mir und meinem authentischen Innenleben ist unterbrochen und dies spiegelt sich dann darin, dass ich den Kontakt zu Dir unterbreche.
Wenn ich jemand anderen abwerte, ist dies oft eine Ausweichbewegung, die dadurch entsteht, dass ich etwas in mir selbst nicht benennen und halten kann. Dies ist das Gegenteil von Multiperspektivität.
Bettina verbindet dann unsere Unfähigkeit zur Multiperspektivität mit Trauma – individuell, transgenerational und kollektiv. Dies verhindert es, dass wir uns auf mehr Facetten in der Welt beziehen können. Da wir sie in uns selbst nicht spüren, distanzieren wir uns von ihnen und werten sie im Außen ab . Damit tragen wir jedoch zur Polarisierung und Fragmentierung bei.
Unsere Beziehungsfähigkeit und Multiperspektivität startet in uns. In unserer Fähigkeit verschiedenste Facetten der Welt zu fühlen. Ein möglicher Schritt für jeden Einzelnen von uns ist es, diese Prozesse bewusster mitzubekommen und uns darüber offen auszutauschen.
In der Gruppendiskussion, die unseren Inputs folgte und die wir nicht aufgezeichnet haben, besprachen wir u.a. wie wir Multiperspektivität mehr trainieren können. Eine Möglichkeit sind Praxisgruppen, in denen sich Menschen unterschiedlicher Meinung zu konkreten Themen zusammen tun und wie in Zeitlupe beobachten, wie sie auf ihr Gegenüber reagieren, körperlich, emotional und mental. In solchen Begegnungen, die viel Mut und Offenheit voraussetzen, können wir uns selbst besser verstehen lernen und Gräben zu anderen überwinden. Danach sind wir meist nicht einer Meinung, aber wir haben auch kein Bedürfnis mehr, andere Menschen abzuwerten und zu verfremden.
Wie können wir in einer Welt, die von Stapelkrisen und existentieller Unsicherheit geprägt ist, stabil und kreativ bleiben?
Unser Kurs Inner Work Intensive vermittelt dir dazu die grundlegenden inneren Kompetenzen in einem interaktiven Format mit vielen Übungseinheiten.