Ich weiß nicht, wie es euch geht. Bis zur Sommerpause war ich voller Energie und Zuversicht, sehr neugierig, wie wir als Gesellschaft mit der Corona-Krise umgehen würden. Wie wir sie nutzen würden, um das Leben neu, passender und nachhaltiger zu gestalten. Doch kaum wieder im Alltag zurück, ist mir immer öfter danach mich einfach nur einzuigeln. Morgens im Bett liegen zu bleiben, ziellos durch die Straßen zu laufen, in die Natur zu flüchten oder stumpf in die Gegend zu schauen.
Teams und Unternehmen voller Spannungen
Bettina beobachtet das gleiche bei den Unternehmen, mit denen sie zusammenarbeitet. Vor dem Sommer waren viele Team energetisiert. Sie waren stolz und froh darüber, schwierige Veränderungen wie die Arbeit im Home Office gut gemeistert zu haben. Sie hatten neue Tools in ihren Arbeitsalltag integriert und fühlten sich digital plötzlich viel kompetenter als je zuvor. Damit wuchs auch die Lust darauf etwas Neues auszuprobieren, veraltete Strukturen zu erneuern. Und jetzt? Die gleichen Teams sind angespannt und erschöpft. Überall poppen Konflikte hoch, sind Mitarbeiter ausgelaugt, unzufrieden und demotiviert.
Unterschiedliche Meinungen, die noch vor ein paar Wochen gut nebeneinander stehen bleiben konnten, prallen jetzt aufeinander und statt Neues auszuprobieren, greifen immer mehr Mitarbeiter auf die alten, gewohnten Instrumente zurück. Mitarbeiter diskutieren, wer in Projekten die Leitung übernimmt und wer was zu sagen hat. Die Chefs möchten die Kontrolle zurück und sträuben sich gegen verlängerte Home-Office-Regelungen. Remote arbeitende Teams fragen sich, wie sie den Gemeinschaftssinn erhalten und einer Silo-Bildung entgegenwirken können. Nachdem die ausgefallenen Veranstaltungen und Meetings vorm Sommer von vielen als Entlastung empfunden wurden, fragen Menschen sich jetzt, wo sie ohne externe Veranstaltungen und Zufallstreffen ihre Inspiration her holen sollen. Der Elan eine neue, bessere Post-Coronawelt zu gestalten, ist selbst in Social Impact orientierten Unternehmen deutlich reduziert.
Ein Faktor für diese neue Stimmung könnte sein, dass viele von uns erst jetzt spüren, wie anstrengend und überfordernd die letzten Monate wirklich waren. Und die Unsicherheit geht unaufhaltsam weiter: Kommt die 2. Welle? Ist sie schon da? Ist der Freund, dessen Bekannte gerade positiv getestet wurde, auch infiziert und trifft es mich jetzt vielleicht auch? Wird Wien zum Risikogebiet erklärt und meine Dienstreise damit abgesagt? Wie verhalte ich mich selbst zu den Restriktionen, die im Freundeskreis vielfach zu Polarisierungen und heftigen Auseinandersetzungen führen?
Das Alte ist weg, das Neue noch nicht da. Das ist anstrengend.
Eine plausible Erklärung für das Stimmungstief ist, dass wir zwischen zwei Welten hängen, der alten Pre-Corona-Welt und einer neuen Post-Covid-Ära: Zu unserer alten Arbeits- und Lebensweise, das wird immer klarer, werden wir nicht wieder zurück gehen. Aber das Neue ist noch nicht da, ist ungewiss und kommt nicht von allein: es muss von uns geboren werden. Ansonsten greifen sich die alten, oftmals dysfunktionalen Machtstrukturen noch mehr vom Kuchen. Davon fühlen wir uns prinzipiell erstmal überfordert, wissen nicht, was tun und frieren partiell ein. Da macht es Sinn, sich erstmal wieder auf vertraute Positionen zurückzuziehen und bekannte Instrumente zu bedienen, die uns Orientierung und Sicherheit geben.
Die Paralyse, so scheint es, betrifft insbesondere Institutionen und Gruppen – Unternehmen, Teams, Familien, die Öffentlichkeit. Als Individuen scheinen sich dagegen viele Unterstützung zu holen. Unsere Therapeuten-Freunde berichten, der Andrang auf sie sei so groß wie nie zuvor. Sie haben lange Wartelisten, nicht nur, weil Menschen mehr Ängste haben, mit denen sie nicht alleine klar kommen. Sondern auch weil viele sich die Sinnfrage stellen: Was ist mir wirklich wichtig? Was will ich in meinem Leben machen? Was kann mein Beitrag zu dem Neuen sein?
Die nächsten Jahre und Jahrzehnte, davon sind wir überzeugt, werden ganz viele neue Lebenschancen für viele Menschen bieten. Altes, Überkommenes wird schneller abgestoßen und zu Ende gehen, als ohne den Schock der Krise. Wo jetzt eine Tür zugeht, öffnet sich eine neue. Jeder von uns hat ein ganzes Spektrum von Fähigkeiten und Neigungen, die in unterschiedlichster Weise mit der Welt zusammenkommen können. Wie Aristoteles sagte: “Wo Deine Talente und die Bedürfnisse der Welt sich kreuzen, dort liegt Deine Berufung”. Individuell können wir diese Zeit dafür nutzen zu sehen, wie unsere Talente und die Bedürfnisse der Welt jetzt gerade zusammenpassen und daraus den nächsten Schritt in unserem individuellen Entwicklungsprozess abzuleiten. Viele neue Fenster gehen dadurch auf, dass unser altes extrahierendes Wirtschafts-Paradigma von einer neuen regenerativen Wirtschaft abgelöst wird – eine der bekannteren Modelle dazu ist das Berkana-Modell in der Illustration oben. Wir können uns jetzt als Einzelner und als Gesellschaft dafür einsetzen, dass Wohlstand und Wellbeing innerhalb planetarischer Grenzen stattfinden. Wir können neue Arbeitsstrukturen mitgestalten, in denen keine 69% der Arbeitnehmer sich emotional entfremdet fühlen, sondern lebendig und authentisch am Arbeitsplatz erscheinen.
Damit das jedoch geschieht, müssen wir lernen mit Unsicherheit umzugehen und Spannung auszuhalten. Handeln wir vorschnell, werden wir im Zweifel immer wieder auf Altes zurückgreifen und so die Chance für wahrhaftige Neuerungen verpassen. Neue Kulturformen, Geschäftsmodelle und Organisationsmodelle brauchen Zeit zu emergieren. Das trifft auf gesellschaftliche Tabus: welcher Politiker oder Wirtschaftschef kann es sich erlauben zu sagen: „Ich weiß es noch nicht“? Wir wollen schnelle Antworten auf höchst komplexe Fragen. Nur so werden wir den unangenehmen Druck in uns los. Aber so verpassen wir auch zugleich die einmalige Chance unserem heutigen Lebensstil ein Update zu verpassen.
Dafür brauchen wir jetzt neue Transit-Räume: Warteräume, geduldige Forschungslabore, vertrauensvolle Gruppen, Chill-Ecken, in denen wir lernen uns auf Unsicherheit und Veränderung einzustimmen. In denen wir unsere emotionale Bandbreite und Flexibilität vergrößern, statt sie einzufrieren. In denen wir unsere Visionen für eine Post-Corona-Ära aus uns selbst heraus entwickeln, mit Herz und Verstand, und sie dann miteinander abgleichen und umsetzen.
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Joana Breidenbach, Bettina Rollow, Rivka Halbershtadt