Manager und Führungskräfte stehen gegenwärtig vor einer gewaltigen Herausforderung, gegen die die “digitale Transformation” fast wie ein Kinderspiel anmutet. Nicht nur sind sie damit beschäftigt die “Business Continuity” sicherzustellen – was vor dem Horizont der schwersten Rezession seit dem 2. Weltkrieg oftmals ein Euphemismus für “Überleben” ist. Darüber hinaus müssen sie ihre Belegschaft organisieren – sicherstellen, dass diese produktiv und motiviert bleibt. Doch wie soll das, woran viele Chefs schon im normalen Bürobetrieb scheitern, bitteschön aussehen, wenn alle im Home Office sind?
Erschwerend kommt hinzu, dass Mitarbeiter sehr unterschiedlich auf die aktuelle Situation reagieren.
Drei Reaktionstypen
Es lassen sich mindestens drei Typen identifizieren:
Manche Mitarbeiter genießen es von zu Hause zu arbeiten. Sie empfinden sich viel produktiver als im Büro, können sich ihren Arbeitsalltag so einteilen wie es ihrem Biorhythmus und ihrer Lebenssituation (mit Partner/Kindern, Stadt/Land etc.) optimal entspricht. Einer meiner Gesprächspartner sagte neulich beim gemeinsamen Zoom-Lunch: “Wenn es nach mir ginge, könnten wir unser Büro auflösen. Ich würde mir dann ums Eck einen Schreibtisch in einem Co-Working holen, zwischen meiner Wohnung und dort hin- und herpendeln und meine Kollegen alle zwei Wochen zu einer Besprechung im physischen Raum treffen.”
Andere wollen auch nicht ins Büro zurückkommen, jedoch nicht, weil sie die Home Office so toll finden, sondern weil sie Angst vor Ansteckung im Büro haben. Für Arbeitgeber dürfte es schwierig sein, diese Gruppe in den nächsten Monaten zur Präsenzarbeit zu zwingen, gerade wenn Vorerkrankungen wie Asthma bestehen.
Die dritte Gruppe sehnt sich ins Büro zurück. Diese Mitarbeiter vermissen den informellen Kontakt und Zusammenhalt untereinander. Manche fliehen auch vor anstrengenden Familienkonstellationen und empfinden den sozialen Austausch mit Kollegen und Kunden wesentlich wertschätzender und identitätsstiftender.
Ich vermute, dass es unter diesen Mitarbeitern auch viele gibt, denen es schwer fällt, sich im unstrukturierten Home Office so zu organisieren, dass sie effektiv arbeiten können. Doch um sich nicht die Blöße geben zu müssen, als unstrukturiert und wenig intrinsisch motiviert zu erscheinen, ist es einfacher zu sagen: “Ich vermisse den menschlichen Austausch in der Teeküche. Ich komme wieder ins Büro”.
Wie können Führungskräfte diese auseinander strebenden Interessenlagen vereinen?
Was also macht man als Chefin, wenn manche Mitarbeiter das Home Office für sich entdeckt haben, andere jedoch so schnell wie möglich in den gewohnten Büroalltag zurück wollen und eine weitere Gruppe von Mitarbeitern aus Angst vor Ansteckung zu Hause bleiben will?
Die kurze Antwort ist: Um in der Krise handlungsfähig zu sein, gilt es für uns Chefs und Manager neue Konzepte der Führung und Zusammenarbeit zu entwickeln, die größeren Spielraum für individuelle Bedürfnisse und Interessen ermöglichen.
Dazu gehört vor allem eines: alte Führungsinstrumente, die im Home Office sowieso nicht greifen, los zu lassen und eine Organisationskultur zu entwickeln, in der Kontrolle und Steuerung dezentraler ausgeübt werden – sie wandern von der Chefetage in viel breitere Teile der Organisation.
Das klingt schwer, doch die gute Nachricht dabei ist: Hier liegt eine enorme Chance. Denn die Corona-bedingten Veränderungen sind zu einem erheblichen Teil die gleichen, die Unternehmen auch fürs digitale Zeitalter fit machen. In beiden Fällen geht es darum in zunehmend unsicheren Umfeldern produktiv zu sein, Wandel aktiv zu managen und Teams in ihrer Autonomie und Innovationskraft zu steigern.
Wie ist es, als Chefin Kontrolle abzugeben?
Ich selbst habe diese Transformation durchlaufen und meine Macht und Verantwortung als Chefin radikal abgegeben. Hier möchte ich einen kleinen Einblick geben, wie so eine Transformation aus der Chef-Perspektive aussehen kann:
Als ich 2014, gemeinsam mit dem betterplace lab Team, beschloss meine Führungsposition aufzugeben und eine “teal organisation” (Frederic Laloux) mit verteilter Führung aufzubauen, war klar, dass zentrale Kompetenzen bei mir und NICHT im Team lagen. So hatte ich ein starkes inneres Gefühl für unsere Identität – ich wußte, was “labbig” war und was nicht, welche Art von Projekten zu uns passen, wo die Reise hingehen sollte. Zudem hatte ich die relevanten Kontakte zu Partnern, Kunden und Förderern in der Außenwelt. Ich hielt den Gesamtüberblick, darüber was in unserer Organisation lief, ebenso wie der größere Markt, inklusive Mitbewerber, sich entwickelte. Mein Gespür für Qualität setzte den Maßstab für das Team.
Manches von diesem Wissen war übertragbar (so konnte ich eine große Mindmap unseres Marktes aufmalen und zentrale Kontakte an Team-Mitglieder übergeben). Aber anderes Wissen war sehr intuitiv und schlecht übertragbar, z.B. mein Gespür für digitale Trends, die für den sozialen Sektor relevant werden würden. Auch fehlte meinen Kollegen das Vertrauen in ihr eigenes Urteilsvermögen und die Erfahrung, welche Risiken tragbar sind und welche vermieden werden sollten. Vor allem aber vermisste ich den Blick für das “große Ganze”, denn Mitarbeiter, die bislang nur an einem Projekt gearbeitet hatten, waren nicht fähig von heute auf morgen die Gesamtheit unserer Arbeit – im Innen und Außen – auf dem Radar zu haben.
Im Rahmen unseres Organisationsentwicklungsprozesses lernten Mitarbeiter immer mehr, was es bedeutet Führung zu übernehmen und insbesondere wie geteilte Führung funktionieren kann. Wir trainierten Kompetenzen wie Selbstkontakt und Selbstreflektion, Feedback und Empathie, Konfliktverhalten und offene, transparente Kommunikation. Dazu schärften wir unser Prozessbewusstsein und die Fähigkeit zur Multiperspektivität.
Schritt für Schritt loslassen lernen
Nun hatte ich gleich zu Beginn unseres Team-Transformationsprozesses meine Arbeitszeit radikal auf 8 Tage im Monat verkürzt. Mir war nämlich klar, dass es mir im täglichen operativen Geschäft schwer fallen würde loszulassen, Kollegen die Möglichkeit zu geben eigene Erfahrungen und natürlich auch Fehler zu machen. Ich war einfach zu dominant und zu besorgt um “mein Baby”, das betterplace lab. Zugleich wollte ich um jeden Preis eine neue Führungsform ausprobieren.
Trotz reduzierter Mitarbeit nahm ich, um den Überblick zu behalten und meinen Input geben zu können, an den wöchentlichen Teammeetings teil. In den ersten Monaten dominierte ich wie früher die Diskussion und merkte, wie schwer es meinen Kollegen fiel in ihre eigene Kraft zu kommen und z.B. Entscheidungen zu treffen, die nicht mit meinen Vorlieben überein stimmten. Immer wieder hatte ich auch das Gefühl, Sachen würden unter den Tisch fallen, da sie von niemandem gesehen wurden. Eine interessante Geschäftschance wurde zwar im Team diskutiert, aber ohne das jemand sie ergriffen hätte. Ein latenter Konflikt zwischen Teammitgliedern war spürbar, wurde aber unter den Teppich gekehrt. Ein Bewerber für eine offene Stelle war meines Erachtens ungeeignet. In allen diesen Fällen sah ich mich gezwungen einzugreifen und nachdrücklich meine Meinung abzugeben.
Graduelle Übertragung von Verantwortung und Kontrolle
Im Laufe der nächsten Monate jedoch veränderte sich dies. In Teammeetings wurde ich immer mehr zum Zuhörer und brachte mich nur noch punktuell mit einem Hinweis oder Gedanken ein. Ich merkte, wie ich mich entspannen konnte, denn meine Kollegen hatten das Machtvakuum, welches mein Rückzug bewirkt hatte, selbst besetzt. Jetzt merkte ich zwar, dass sie andere Entscheidungen fällten und andere Wege beschritten, als ich, aber ich sah auch, das sie dies in verantwortungsvoller und engagierter Weise machten. Ich konnte sehen, dass sie sich der Tragweite einzelner Schritte bewußt waren und offen und konstruktiv miteinander diskutierten.
Ich erinnere mich noch sehr genau an den Tag, an dem ich mich zum ersten Mal so richtig im Team entspannen konnte. Das Team stand zwar vor einer schwierigen Situation, aber ich konnte spüren, dass sie die Verantwortung übernahmen. Niemand erwartete von mir, dass ich einspringen würde. Ja, ich wurde herangezogen und um Rat gefragt, aber die Mitarbeiter selbst wußten voll und ganz das es ihre Aufgabe war das Problem zu lösen. Und sie wussten, dass sie die geeigneten Kompetenzen dafür hatten. Ich konnte diese Verlagerung nicht nur mental beobachten, sondern sehr konkret in meinem Körper spüren. Obwohl die Sitzung angespannt war, entspannte sich mein Körper, denn er wußte: dieses Team wird es genauso gut – wenn nicht besser regeln als ich. Wir hatten es geschafft eine hierarchische Führung wirklich in eine geteilte Führung zu überführen.
Die hier beschriebene Transformation hat seine Zeit gedauert – erst nach zwei Jahren hatte ich das Gefühl Macht weitgehend übertragen zu haben und es brauchte weitere zwei Jahre bis dies vollständig der Fall war.
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Heute arbeite ich vier Tage im Monat für das betterplace lab; ohne tragende operative Rolle, sondern als “Godmother” im Hintergrund. Ich bin so etwas wie das institutionelle Gewissen, das neue Teammitglieder immer wieder daran erinnert, was das betterplace lab mal war. Ich bin aber auch ein Pflug in die Zukunft, bahne neue Kontakte an und bringe punktuell neue Ideen ein. Ich bin in der wunderbaren Lage, mich an der Kür der Organisation zu beteiligen und dabei zu sehen, wie gut die Organisation von meinen ehemaligen Mitarbeitern geführt wird.
Meine wichtigsten Learning
- Es bedarf eines gezielten Kompetenzaufbaus, um geteilte Führung unter ehemaligen Mitarbeitern zu etablieren.
- Ehemalige Chefs müssen die Machtübergabe ernst meinen und Teams (in vertretbarem Rahmen) ihre eigenen Fehler machen lassen.
- Ehemalige Chefs müssen loslassen können: Die Unternehmung wird eine andere sein, als sie es mit dem ex-Chef war. Denn jedes Team wird die für sich stimmige Richtung finden müssen. Versuchen Mitarbeiter einfach nur den Stil der alten Führung nachzuahmen, können sie nicht wirklich ihr Potential entfalten, denn beides muss zusammenfallen; das Wachstum des einzelnen Mitarbeiters und die strategische Weiterentwicklung des Unternehmens. So wie Laloux das mit dem Begriff der “evolutionary purpose” treffend beschrieben hat.
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