Wenn Bettina von Unternehmen als Organisationsentwicklerin angefragt wird, steckt dahinter oft der klare Impuls der Geschäftsleitung: „Wir möchten, dass unsere Teams eigenständiger arbeiten und entscheiden.“
Der Wunsch, Verantwortung und Gestaltung auf mehr Köpfe zu verteilen entspringt der Erkenntnis, dass einzelne Führungskräfte überfordert sind, das Unternehmen alleine durch die komplexe Wirtschaftslage zu steuern. Klassische Hierarchien sind schlicht zu dumm, um Komplexität und Transformation adäquat zu managen. Dafür braucht es die kollektive Intelligenz größerer Teile der Belegschaft.
Soweit so gut – und nichts Neues. Und doch hat sich in den letzten Jahren etwas Grundlegendes verändert.
Zu erschöpft für Neues
Bis zur Corona Pandemie, und auch noch während dieser, waren Unternehmen damit beschäftigt zu lernen wie sie psychologisch sichere Räume aufbauen, in denen Menschen Vertrauen zu sich und anderen finden, um auf dieser Basis mehr Verantwortung zu übernehmen und eigenständig zu wirken. Dazu gehörte auch immer Innere Arbeit, denn psychologische Sicherheit entsteht primär durch Kontakt und Beziehungsaufbau. Wir fühlen uns sicher, wenn wir erleben, dass wir ehrlich und transparent miteinander sprechen und auch Spannungen und Konflikte verarbeiten können.
Um diesen Beziehungsaufbau geht es auch jetzt. Doch heute fällt es vielen Menschen viel, viel schwerer sich für einen neuen Entwicklungsschritt zu öffnen. Denn wo wir hinschauen, erleben wir vor allem eines: Erschöpfung, Überforderung und den großen Wunsch nach Unterstützung. Ein Sozialunternehmer drückte das neulich Joana gegenüber so drastisch aus: Mein Team ist entweder beim Therapeuten, in der Klinik oder hat einen Reizdarm.
Während Teams sich vor einigen Jahren neugierig und motiviert mit Selbstorganisation beschäftigten, hören wir immer öfter, dass sie jetzt genau in die entgegengesetzte Richtung pendeln und mehr Führung und Orientierung im Außen fordern.
Ein Freund von Bettina berichtete ähnliches aus dem Bereich der psychosozialen Beratung. So ist eines der wichtigsten Instrumente im Bereich der Suchtprävention, dass man mit Klient*innen an deren eigene Motivation anknüpft und die nächsten Schritte aus ihnen selbst heraus entwickelt. Doch in vielen Settings scheint diese Art der motivierenden Gesprächsführung aktuell fast unmöglich. Stattdessen bitten die Klienten darum, einfach nur klare Anweisungen und Richtlinien zu bekommen. Sagt mir einfach, was ich tun soll. Denn ich habe keine Kraft noch tiefer in meine eigene Innenwelt einzutauchen.
“Unproduktive” Aspekte wie Überforderung brauchen neue Räume
Im Rahmen des Leistungsparadigmas liegt es nahe, den beteiligten Menschen in den beschriebenen Fällen ein Defizit zu attestieren und noch mehr Entwicklungsdruck auszuüben. Für uns weisen die beschriebenen Symptome aber in eine andere Richtung. Nämlich, dass wir entgegen der Leistungsorientierung auch in Organisationen Wege finden müssen, „unproduktiven“ Aspekten wie Erschöpfung und Überforderung, Raum zu geben und uns, wenn möglich, mit deren Ursachen zu beschäftigen.
Es geht also zuerst einmal darum, anzuerkennen, dass wir erschöpft und überfordert sind, statt schnell nach einer Lösung zu suchen. Wenn wir uns gemeinsam auf die Herausforderungen einlassen, kann das den gleichen Effekt haben, wie wenn wir verschiedene überhitzte Elektrokreisläufe miteinander verschalten: im Kontakt verteilt sich die Spannung über ein größeres Feld. Im besten Fall entsteht so wieder mehr Raum für den Einzelnen und wir können zugleich unsere Kapazität vergrößern, uns auf das, was gerade schwierig ist, besser einzulassen.
Neue Kontakt- und Verdauungsräume sind somit ein neues (altes) Instrument, mit der Metakrise und unserer aktuellen Malaise besser umzugehen. In ihnen können wir unsere inneren Kapazitäten – physiologisch gesprochen, unser Nervensystem – neu ausrichten, indem wir sie/es expandieren.
Wenn wir davon ausgehen, dass die Welt, so unsicher und komplex, wie sie gerade ist, morgen nicht wieder „einfach“ sein wird, dann müssen wir lernen uns auf ein „neues Normal“ einzustellen. Ein „neues Normal“, das größer ist, als unser „altes Normal“ und insbesondere mehr Information und mehr Spannung beinhalten kann. Das bedeutet nicht, dass wir kapitulieren und uns an die Schieflage anpassen. Sondern vielmehr, dass wir neue Kapazitäten entwickeln, um bewusster hinzuschauen, mehr fühlen, was gerade in uns und anderen passiert, anstatt uns von der Realität durch Konsum oder andere Kompensationsstrategien ablenken zu lassen.
Aus der neuen Verbindung mit Realität entsteht der nächste Schritt
Welche neue Realität dadurch im Innen und Außen entsteht, wissen wir nicht. Denn es liegt in der Natur von Komplexität, dass wir zuerst experimentieren und Veränderungen wahrnehmen und erst später reagieren und bewerten. Das fühlt sich ungewohnt und unproduktiv, und oft sogar gefährlich an. Es mag auch so erscheinen, als würden wir uns freiwillig noch tiefer in die Malaise eingraben. Und doch erscheint uns dieser Weg als der einzig stimmige. Als unsere beste Chance, zu einer neuen Bewegung zu finden. Raum zu schaffen für neue Ideen und einer tieferen Menschlichkeit. Indem wir uns wirklich auf die Realität einlassen, so wie sie uns gerade erscheint, sind wir in der Lage einen nächsten (gemeinsamen) Schritt zu gehen.
Neue Formen der Zusammenarbeit und Führung brauchen mehr denn je die Kapazität der Präsenz. Nur so können sie nachhaltig, innovativ und sinnstiftend sein.