Ist es für uns ethisch vertretbar Midjourney und ähnliche KI-Dienste zu nutzen?

Illustration erstellt mit Midjourney. Die Prompt war: an image in the style of Philip Guston which illustrates the idea that you need to be able to "live in the future" (meaning that you need to engage with tools such as Midjourney) in order to understand the ethical dilemmas and questions raised by digital Ai Tools

Vor kurzem wurden wir von Helmut, einem unserer Leser, kontaktiert. Er forderte uns auf, keine KI Dienste für die Erstellung unserer Illustrationen zu verwenden. Die Bilder, die ich mit Midjourney für unsere Blogposts entwerfe, seien keine „echten Illustrationen“ und für Kulturschaffende entwertend. Denn die Sprachmodelle, auf denen diese Dienste trainiert werden, nutzen Kunstwerke von vielen Kreativen, die keine direkte Entlohnung oder Anerkennung erfahren, obwohl ihre Arbeit ein essenzieller Bestandteil der Technologie ist. Mit dieser Nutzung des KI-Dienstes würden wir, so schrieb unser Leser, unsere eigenen Prinzipien widersprechen.

Wir freuen uns immer sehr, von euch zu hören. Gerne auch um kritisches Feedback zu bekommen. Auf die meisten Mails antworten wir persönlich. In diesem Fall fanden wir die Kritik so relevant, dass wir sie als Anlass nehmen, das angesprochene Dilemma öffentlich zu reflektieren. Dabei erheben wir nicht den Anspruch, radikal neue Erkenntnisse zu produzieren, denn ethische Diskussionen rund um die Nutzung von Midjourney und ähnlichen KI-Diensten sind voll im Gang. Wir nutzen aber die Chance, unseren momentanen Standpunkt für uns selbst zu klären und dies mit euch zu teilen.

Warum nutzen wir Midjourney?

Für mich, Joana, die die Illustrationen erstellt, ermöglicht Midjourney schnell und kostengünstig Grafiken zu erstellen. Wir haben in der Vergangenheit für unsere Blogposts fast immer rechtefreie Bilder, z.B. von Unsplash verwendet, da urheberrechtlich geschützte Bilder meist zu teuer sind und die Einholung von Rechten oft umständlich ist. In der Vergangenheit habe ich vereinzelt mit Künstlern individuell die Nutzung ihrer Werke abgesprochen und mit kleinen Summen oder Spenden auf betterplace.org Projekte kompensiert. Als Midjourney online ging, habe ich gleich begonnen, damit zu experimentieren. Denn mich faszinieren die Möglichkeiten digitaler Technologien in all ihren Facetten.

Neben dem kostengünstigen und schnellen Erstellen von Illustrationen macht es mir als Mensch, ohne besondere Design- oder Zeichenfähigkeiten schlichtweg Freude, mit den neuen Bildwerkzeugen zu experimentieren. Ich lerne welche Anweisungen, Prompts, welche Ergebnisse bringen. Oft staune ich über die ungewöhnlichen Bilder, gelegentlich ärgere ich mich, wenn ich sehe, welche steretype Bildwelten mit Begriffen wie “Aktivistin” (erhobene Faust) oder “Mitarbeiter” (weisse Männer in Anzügen) verbunden sind. 

In Bezug auf die größere ethische Frage: Ja, ich wünsche mir auch, dass die Designer und Künstler, mit deren Werken die Sprachmodelle trainiert werden, dafür bezahlt werden. Ich sehe die Entwicklung, dass KI-basierte Dienste vor allem ihre Gründer und Investoren materiell belohnen und dabei Schöpfer und andere Mittelsinstanzen umgehen, als höchst bedenklich an. So entstehen Winner-take-all Märkte und eine dramatische Verlagerung des Wertes von Arbeit zu Kapital, da KI-Systeme zunehmend wirtschaftlichen Wert für ihre Betreiber schaffen. Dabei geht es nicht nur um Automatisierung, sondern um eine grundlegende Verlagerung der Wertschöpfung hin zur Maschine. Diese Entwicklung ist eine, die große Teile der Arbeitswelt erfassen wird und deren Auswirkungen wir noch nicht mal annähernd erahnen.

Wieso nutze ich dennoch Midjourney?

Dies hat mindestens zwei Gründe:

Re-Mix ist die Basis aller kultureller Updates

Das erste Argument greift auf meine kulturanthropologische Prägung zurück: fast alle kulturellen Entwicklungen und Innovationen basieren darauf, dass sie Bestehendes weiterentwickeln. Kultur ist eine fortlaufende Kompostier- und Verwertungsmaschine, bei der wir bewusst oder unbewusst auf alte Formen und Ideen zurückgreifen und daraus etwas Neues gestalten. Purismus oder lineare  Ahnenlinien sind hier meist verfehlt. Natürlich gibt es einzelne Formen von kultureller Aneignung, die illegitim sind, da sie Machtunterschiede auf direkte und eklatante Weise ausbeuten. Aber für mich gilt der Grundsatz, den ich in meinen Büchern Tanz der Kulturen (1998, mit Ina Zukrigl) und Seeing Culture Everywhere (2008 mit Pál Nyiri) vertreten habe: menschliche Entwicklung und ein Update unserer Lebensformen basiert auf den unterschiedlichsten, oft gar nicht identifizierbaren Einflüssen. Wir alle stehen auf den Schultern unserer Vorfahren und in den meisten Fällen ist es unmöglich oder unsinnig die Genealogie von Neuschöpfungen präzise zu benennen. Ebenso braucht gestalterische Kreativität einen möglichst freien Nährboden und die Freiheit mit den sie umgebenden Werken neue Kunst zu machen. Eine immer restriktivere Copyright-Gesetzgebung (die meist von Großkonzernen wie Disney oder Universal propagiert wird) schadet uns allen (s. auch Lawrence Lessig Remix 2008).

Nun kann man natürlich argumentieren, dass das, was eine KI erzeugt, keine Kunst ist. Aber dieses Argument wurde historisch auf fast jede neue Form des gestalterischen Ausdrucks angewandt, sei es auf Fotografie, die Werke der Impressionisten oder Duchamp’s Flaschentrockner. Für mich steht außer Frage, dass KI-Technologien neue künstlerische Ausdrucksformen erschaffen. Dadurch werden sich langfristig neue Märkte für Künstler eröffnen, z. B. durch die Zusammenarbeit von Künstlern mit KI oder den Verkauf von speziell für KI-Training lizenzierten Werken. Ebenso wie wir in der Vergangenheit die Gründung neuer Lizensierungsmodelle wie VG Wort und VG Bild gesehen haben, werden auch zukünftig neue Monetarisierungsmodelle entstehen. Bis dahin ist die Nutzung von Tools wie Midjourney ein vorübergehender Zustand.

Nur wer mit einem Fuß „in der Zukunft lebt“ kann diese gestalten

Um in die Diskussion über faire KI-Nutzung einzusteigen und bewusst an diesem neuen Kultur- und Wirtschaftsbereich zu arbeiten, brauchen wir jede Menge Menschen, die sich aus den unterschiedlichen Perspektiven mit den Werkzeugen auseinandergesetzt haben. Und dies ist mein zweites Argument: nur wer schon mit bestimmten Facetten seines Lebens „in der Zukunft“ lebt, kann Zukunft gestalten.

Wenn ich mir anschaue, wer wirklich bahnbrechende Innovation entwickelt, dann sind das meist Menschen, die sich tief und breit in eine Materie eingearbeitet haben, z.B. in dem sie neue Technologien benutzen, damit experimentieren, deren Grenzen und Potential erproben. Dadurch interagieren sie wiederum mit anderen Menschen, die ebenfalls „in der Zukunft“ leben und sie beginnen neue Verhaltensmuster, Denk- und Gefühlsweisen zu kultivieren. Langsam verschiebt sich ihre Norm: sie erkennen, dass die Art und Weise, wie wir gegenwärtig leben, nicht zwingend ist. Die Welt, wie sie jetzt existiert – die Welt, die ist -, stellt nur eine Möglichkeit unter vielen dar, wie die Welt sein könnte. Und durch ihre Praktiken, Haltungen und Manifestationen schaffen sie neue Kulturfelder, die dann wiederum von viel mehr Menschen genutzt werden.

Diese Innovatoren sind weniger mit dem Status Quo identifiziert. Sie trauen sich Dinge anders zu machen und Potentiale und Alternativen auszuloten, die andere in die Terrorzone versetzen würde. Diese Gabe der relativen Unabhängigkeit ist erstmal wertfrei. Sie kann für „positive“ als auch „negative“ Entwicklungen eingesetzt werden. Ich möchte natürlich gerne Teil einer Entwicklung sein, die ich als positiv erachte. Aber ich habe auch gelernt, dass wir die mittelfristigen, geschweige denn die langfristigen Konsequenzen von unseren heutigen Taten nicht voraussehen können. Wie Cormac McCarthy sagte: „Du weisst nie, vor welchem größeren Unglück Dich Dein Unglück bewahrt hat.“

In diesem Sinne verstehe ich meine Aufgabe so: ausreichend mit den aktuellen KI-Entwicklungen vertraut zu sein, sie in meiner begrenzten Weise nutzen, um in der Lage zu sein eine unaufhaltbare Entwicklung etwas mitgestalten zu können. Wenn dann KI-Dienste entstehen, die die Schöpfer von Trainingsdaten anerkennen, werde ich unter den ersten sein, die dazu überwechseln. Bis dahin tauche ich in das neue Technologiefeld ein und versuche die Diskussion um faire KI-Nutzung, aber auch andere damit verbundene Zukunftsthemen.

Relevante Impulse für die Zukunft

Für mich ist die scheinbar isolierte Praxis ein Tool wie Midjourney zu nutzen eine Möglichkeit mich tiefer mit der Zukunft zu beschäftigen und dementsprechend relevante Impulse zu geben.

Mein Impuls wird nicht sein, dass ich eine neue Bild-KI-Plattform gründe. Sie gehen eher dahin, gemeinsam mit Bettina und anderen zu überlegen, wie wir:

  • inklusivere Innovationen gestalten können, die die Vergangenheit nicht wiederholen, sondern mehr Realität einbeziehen und damit mehr Menschen ein besseres Leben ermöglichen
  • wie wir in einer Welt der immer extremeren Vermögenskonzentration Wert neu verteilen können, um einen breiteren Wohlstand und zufriedenstellende Lebensstandards für möglichst viele Menschen zu erschaffen
  • wie wir die Zukunft der Arbeit, Stichwort Robotisierung und Automatisierung, gestalten: welche neuen äußeren und inneren Kompetenzen benötigen wir? Wie konstruieren wir Identitäten und unseren Tagesablauf, wenn sich der Stellenwert von Lohnarbeit drastisch verändert?

Unsere krisenhafte Gegenwart ist nur dann unveränderbar, wenn wir uns ihr nicht stellen. Für mich bedeutet das: statt gegen Windmühlen anzukämpfen, bzw. meinen eigenen Einfluss zu überschätzen (wen /was würde mein Boykott von Midjourney erreichen?), versuche ich mich mit der Gegenwart so eng wie möglich zu verbinden. Indem ich bemüht bin, an der Grenze zur Zukunft zu leben, habe ich eine Chance von dort aus, Schritt für Schritt, mögliche Antworten zu entwickeln, in denen sich meine Werte widerspiegeln.

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Wie seht ihr diese Fragen? Wie geht ihr mit den neuen KI-Werkzeugen um? Was sind eure Erfahrungen und welche Kriterien sind für euch ausschlaggebend? Wir freuen uns von euch zu hören!

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