Die Metakrise Oder Welche Zukunftspfade stehen uns offen? Teil 1

Illustration generiert mit Midjourney

Vor einigen Monaten fing ich an, mich tiefer mit dem Phänomen der Krise auseinanderzusetzen. Wo immer ich auch hinschaute, war der Diskurs über Krisen omnipräsent. Wir sprachen über die Polykrise, Permakrise, Omnikrise, Metakrise, Sinnkrise und bei dem inflationären Gebrauch verlor ich meine eigene Orientierung. Waren wir überhaupt in der Krise? Mit was verglichen wir unsere heutige Lage? Welche Krisenbeschreibung machte für mich Sinn? Klar war, dass ich, ebenso wie sehr viele Menschen um mich herum, die Welt diesseits und jenseits unseres unmittelbaren Wirkungsumfelds als zunehmend unübersichtlich und überwältigend empfand. Je mehr ich über das Thema las und sprach, desto stärker wurde mein Bedürfnis mich klarer zu verorten. Der folgende Text spiegelt meinen eigenen Entwicklungsprozess und reflektiert Fragen wie: In welche Narrative bin ich eingebettet? Woran orientiere ich mich? Wie hat sich mein Verhältnis zur Welt und meine Sicht auf Realität verändert? Welche Perspektiven und Handlungen für eine bessere Zukunft erscheinen mir aktuell in dieser Welt der Poly/Omni/Perma/Metakrise stimmig und sinnvoll? Meine Exploration und Überlegungen zu diesen Fragen stellte ich letzte Woche in Form einer Keynote auf dem Pura Vida Retreat Festival vor. Die positive Resonanz der Teilnehmenden inspiriert mich, diese auch hier in Form einer drei-teiligen Serie zu veröffentlichen.   

Ein Text, 15 Jahre, zwei sehr unterschiedliche Reaktionen

Woran merken wir, dass sich unser Verhältnis zur Welt verändert hat? Dass ein Glaubenssatz, den wir tief verinnerlicht hatten, so nicht mehr stimmt, sich vielleicht ganz aufgelöst hat? Für mich ist Veränderung oft ein schleichender Prozess, der dann von einzelnen Momenten punktiert wird, in denen die Veränderung deutlicher ins Gesicht springt.

Ich kenne mich als Menschen, der von Neuem angezogen ist, der sich privat und beruflich viel mit möglichen Zukünften beschäftigt. Auf meiner Website schrieb ich vor einigen Jahren, dass „mein innerer Magnet“ von allem angezogen wird, was „edgy“ ist und ich es liebte, „neue Dinge in die Welt zu bringen“.

Teil der schleichenden Veränderung war, dass mich Neues – Technologien, Ideen, Projekte – nicht mehr so begeisterte. Ich vermied Konferenzen, die mich einst inspiriert hatten. Ich kaufte weniger Gadgets. Ich meldete mich nicht mehr für alle Beta-Versionen der Tools an, die mir mein Freund Jörg, eine zuverlässige Quelle für eben diese, empfahl. Stattdessen ging ich mehr spazieren, las Bücher von Schriftstellern des 19. oder 20. Jahrhundert und fing sogar an konservative Newsletter auf Substack zu abonnieren. Das “neue”, “innovative”, “transformative”, wirkte auf mich nicht mehr frisch und voller Potential, sondern wie eine weitere, schale Wiederholungsschleife der Vergangenheit. 

Diese Verschiebung war desorientierend. Gelegentlich überkam mich das Gefühl, etwas verpassen zu können. Nicht mehr Teil einer Avantgarde, in the know, zu sein.

Dann las ich vor einigen Wochen das Dark Mountain Manifesto, einen Text, den ich 2009, bei seinem Erscheinen, schon einmal, eher skeptisch, in den Händen gehalten hatte. Doch was mir vor 15 Jahren dystopisch und alarmistisch vorgekommen war, erzeugte plötzlich große Resonanz. 

Das Manifest skizziert die ökologischen und gesellschaftlichen Krisen, mit denen die Menschheit konfrontiert ist und plädiert für eine Abkehr vom Glauben an immerwährendes Wachstum und technologische Lösungen. Es ruft dazu auf, die Unvermeidbarkeit der Zerstörung und des Zusammenbruchs zu akzeptieren und zu betrauern. Es beschreibt die Notwendigkeit, die Ungewissheit der menschlichen Existenz anzuerkennen, sich auf das Lokale und Gemeinschaftliche zurück zu besinnen und unsere Beziehung zur Natur und zu anderen Lebewesen in Demut neu zu gestalten. Zugleich betont das Mainfest: Auch wenn die Welt, wie wir sie kennen, an ihr Ende gekommen ist, ist das nicht das Ende der Welt. Zusammen können wir Wege in eine unbekannte Zukunft finden.

Während ich das Manifest jetzt las, wurde mir bewusst, dass sich einer meiner wichtigsten Glaubenssätze und Orientierungspunkte verändert hatte: Mein Leben lang war ich, mal bewusster, mal unbewusster, davon ausgegangen, dass die Welt sich nach vorne entwickelt. Mein Geschichtsstudium bewahrte mich zwar davor, naiv an eine lineare Entwicklung zu glauben. Aber die großen Linien stellte ich nicht in Frage: die Menschheit strebte nach mehr Freiheiten und Ausdrucksmöglichkeiten, mehr materiellen Wohlstand, einem längeren gesunden Leben. Zum gleichen Szenario gehörte, dass demokratische Grundordnungen, universelle Werte und technologische Errungenschaften sich weltweit ausbreiten und anerkannt werden würden. Die Basis dieses Fortschritts, eine belastbare und stabile Erde, nahm ich, trotz Umweltschäden und Klimawandel, als gegeben an.

Für meinen eigenen Lebensweg und mein Wirken als Autorin und Sozialunternehmerin boten diese Parameter eine klare Orientierung. Ich versuchte dazu beizutragen, ideelle und technologische Errungenschaften zwar machtkritisch zu hinterfragen und dadurch zu verbessern, sie aber im Grundsatz weltweit zu verbreiten. 

Doch im Laufe der letzten Dekade passten meine Fortschrittsprojektionen und die sich stapelnden Krisen immer weniger zusammen. Statt demokratische Strukturen zu verbreiten, waren wir mit einer rapiden Zunahme autoritärer Regime und einem mir bis dato unvorstellbaren Rechtsruck konfrontiert. Statt Toleranz und Meinungsfreiheit wurde der öffentliche Diskurs polarisierter und eingeschränkter. Erstmalig seit Jahrzehnten diskutierten wir die Möglichkeit eines dritten Weltkriegs. Im technologischen Bereich beschäftigten wir uns nicht mehr mit Partizipationspotentialen, sondern mit Überwachung, Desinformation, Einsamkeitspandemie und der rapide Zunahme mentaler Krankheiten. Und die trotz Klimavereinbarungen und wissenschaftlichem Konsens immer weiter fortschreitende Erhitzung des Klimas und die Zerstörung der Natur durch unsere Wirtschafts- und Konsumpraktiken, stellten das Überleben der Menschheit in seiner jetzigen Form, ganz grundsätzlich in Frage.

Zeit meines Lebens hatte ich mich in der Moderne verankert. In einem Weltbild, welches darauf abzielt, Menschen von mißbräuchlichen Machtinstitutionen und oppressiven Ideologien zu befreien, um ihnen größtmögliche Autonomie und Gestaltungsfreiheit zu ermöglichen. Zugleich ging ich davon aus, dass die Grundpfeiler der Moderne, wie Rationalität und Wissenschaft, breite Partizipation und Rechtsstaatlichkeit, es uns auch ermöglichen würden, die tiefgreifenden Krisen der Gegenwart zu meistern. 

Doch je tiefer ich meine Überzeugungen überprüfte, desto brüchiger und unvollständiger erschienen sie mir. Ich sah beides: Aufklärung und Moderne hatten die Welt für Teile der Menschheit enorm vergrößert und vertieft. Sie hatte starre  kulturelle und missbräuchliche soziopolitische Strukturen aufgelöst und den Verstand zum Leuchten gebracht UND sie hatte neue Dominanzsysteme geschaffen und sehr viel Realität ausgeblendet.

Vier Ausbeutungsbeziehungen als Wurzeln des Wohlstands

Aus der postkolonialen Perspektive war die industrielle Revolution in Nordwest-Europa keine endogene, auf dem Boden mittelalterlicher Kultur, neuer Handelsformen, wissenschaftlicher Erkenntnisse und Technologien entstandene Entwicklung, sondern basierte auf Ausbeutungsbeziehungen. Branco Milanovic fasst vier davon wie folgt  zusammen: Die erste war die Kolonialisierung und die damit einhergehende Extraktion der Naturschätze und Bevölkerungen Asiens, Afrikas und der Amerikas. Der transatlantische Sklavenhandel war die zweite Wurzel des europäischen und US-amerikanischen Wohlstands. Als dritte Entwicklung, die den westlichen Vorsprung ermöglichte, sehen Historiker die weit in die Jahrhunderte zurückreichenden Regulierungen, die es außereuropäischen Ländern untersagten, eigene Kapazitäten und Technologien zu entwickeln, beispielsweise Rohstoffe selbst zu veredeln oder zu fairen Preisen zu exportieren. Dieses Ungleichgewicht besteht bis heute, indem der globale Norden immer noch mehr Ressourcen aus dem globalen Süden abzieht als umgekehrt. Und die vierte Last, die der Westen ärmeren Ländern aufbürdet, ist der weltweite CO2 Ausstoß, unter dem letztere unverhältnismäßig leiden. In die gleiche Richtung weisen auch kritische Stimmen, beispielsweise von Daniel Schmachtenberger oder Vanessa Machado de Oliveira, die darlegen, wie die wichtigsten Institutionen der Moderne, der Nationalstaat und Kapitalismus, für ihren Selbsterhalt auf Gewalt und nicht nachhaltige Extraktion angewiesen sind.

Noch grundsätzlicher geht der Philosoph Christoph Menke der Frage nach dem Befreiungspotential der Moderne nach und beginnt seine “Theorie der Befreiung” (2022) mit dem Fazit:

Alle Befreiungen, die die Moderne seit ihrem Beginn hervorgebracht hat, haben sich – früher oder später – ins Gegenteil verkehrt. Sie haben neue Zwänge, neue Ordnungen der Abhängigkeit und Knechtschaft hervorgebracht. Wir kennen die Diagnosen, ihre Liste ist lang: Die Befreiung von äußerer Herrschaft und Bevormundung hat zu Regimen der Selbstkontrolle und Selbstdisziplin geführt; die Befreiung unserer Bedürfnisse und Interessen aus den Grenzen, die ihnen durch Tradition und Sittlichkeit gezogen waren, hat sie der Verwertungslogik der kapitalistischen Ökonomie unterworfen; die Befreiung der Schwarzen hat die rassistische Ausbeutung in rechtlicher Form reproduziert; die Befreiung der Frauen hat sie in den ökonomischen Verwertungszusammenhang integriert; die Befreiung der Sexualität hat die Kampfzonen der Konkurrenz ausgeweitet; die Befreiung der Worte, Farben und Töne hat die Kunst dem Kalkül der Wirkung unterworfen. Alle Befreiungsversuche, ob politisch, ökonomisch, rechtlich, ethisch, kulturell oder künstlerisch, haben sich in Paradoxien und Widersprüche verfangen; sie haben neue Gestalten und Strategien der Herrschaft hervorgebracht. 

Mehr noch ist offensichtlich geworden, dass die Befreiung in Wahrheit immer schon der Rechtfertigung von Herrschaft diente. Die eigene Befreiung rechtfertigt, die anderen zu beherrschen – um sie da durch zu befreien. Im Namen der Befreiung hat Europa seine Herrschaft über die Welt errichtet: den globalen Süden erobert und kolonialisiert, die alten Mächte des Ostens zur Öffnung ihrer Häfen und Grenzen gezwungen, die traditionellen Kulturen den Imperativen der Emanzipation unterworfen. Dies bedeutet, dass die Befreiung nicht länger ein Versprechen und eine Hoffnung sein kann. Die Befreiung ist nicht die Zukunft, die erst noch kommen wird und kommen soll.

Meine Verstrickung in Ungleichheit

Parallel zu dieser gesellschaftspolitisch-philosophischen Spur begann ich, meine persönliche Verstrickung in die tiefen systemischen Ungleichheiten zu erforschen. Wie unter einem Vergrößerungsglas konnte ich in therapeutischen und kontemplativen Settings studieren, wie meine psychologische Sicherheit und Identität als autonomer Mensch auch darauf basierte, dass ich viele Lebensrealitäten ausblendete, die meinen Lebensstil und meine soziale Positionierung überhaupt erst ermöglichten. Wenn jemand wie ich sich ermächtigt fühlt und für seinen Platz in der Gesellschaft wenig kämpfen muss, bedeutet das in einem hierarchischen Gefüge automatisch, dass andere Menschen „niedrigere“ Ränge besetzen. Auch hier war „Fortschritt“ mit Dominanz und Ausgrenzung verbunden.

Mein Glaube an Verbesserungen innerhalb des gegenwärtigen Paradigmas und damit auch ein Vertrauen darin, dass wir als Menschheit die großen gegenwärtigen Krisen meistern können, wurde noch durch eine weitere Erfahrung erodiert. In den letzten 20 Jahren hatte ich viele Menschen in machtvollen Positionen gesehen, die sich für eine „bessere Welt“ einsetzten und öffentlich als Impact Investoren, Nachhaltigkeitsexperten oder „grüne Unternehmerinnen“ auf der vermeintlich richtigen Seite der Geschichte standen. Doch während ich die Situation als immer dringlicher empfand, schienen die meisten meiner Gleichgesinnten weiterhin auf noch nicht erprobte Technologien, AI-Fortschritte und verantwortungsvolle Unternehmer und Politiker, sowie eine engagierte Zivilgesellschaft zu bauen, die uns vor dem Abgrund schützen würde. Aber was bewirkten wir wirklich, wenn wir auf Nachhaltigkeit und sozialer Gerechtigkeit wie auf einer weiteren Trendwelle ritten, ohne grundlegend etwas zu verändern? 

Selbsterhaltungstrieb und Hybris

Viele „Innovationen“ und „Nachhaltigkeitsstrategien“ zementierten nicht nur den Status Quo, sondern verschafften den eh schon privilegierten Bevölkerungsgruppen einen weiteren Vorsprung. Diese Dynamik hat Anand Giridharadas in „Winners Take All: The Elite Charade of Changing the World“ (2018) treffend beschrieben. Wir machten alle „business as usual“, plus ein paar mehr Bahnfahrten, besorgten Mienen und Rendite-orientierten Investitionen in grüne Fonds. Der Selbsterhaltungstrieb und die Hybris der machtvollen, privilegierten Akteure, zu denen ich mich selbst auch zählte, war zu groß, als dass ich weiterhin darauf vertrauen konnte, dass wir die notwendigen Kurswechsel vollziehen würden.

Diese verschiedenen Erfahrungsstränge führten dazu, dass ich mich von der Standortanalyse des Dark Mountain Manifesto, 15 Jahre nach der ersten kritischen Lektüre, auf einer tiefen Ebene angesprochen fühlte. Ja, ich hatte selbst den Eindruck, ein Leben zu leben, welches es in dieser Form eigentlich gar nicht mehr gab. So sehr ich viele „moderne“ Facetten meines Lebens liebte (ich schreibe diese Zeilen im Café Prückel in Wien), so wenig konnte ich die Widersprüche in meinen eigenen Orientierungen und Überzeugungen ignorieren. Wir würden die vielen existenziellen Krisen nicht im gleichen Bearbeitungsmodus lösen können, der sie erzeugt hatte. Die Aussage, dass wir am Ende der uns bekannten Welt angekommen sind, machte Sinn. 

Auf der Suche nach tieferen Ursachen – Polykrise versus Metakrise

Das Dark Mountain Manifest betont, dass das Ende der heutigen Welt nicht das Ende der Welt an sich ist. Schließlich sind die Prämissen der Moderne auch nur eine spezielle Spielart unter vielen. Das Römische Reich hatte andere Paradigmen als das europäische Mittelalter oder Japan während der Edo Periode. Doch um in eine neue Richtung zu gehen und mit unseren Handlungen die krisenhafte Gegenwart nicht zu wiederholen, benötigen wir ein Verständnis dafür, wie wir in dieser Welt gelandet sind.

Für die tieferen Ursachen hinter den unbeabsichtigten Verwerfungen gibt es zahlreiche Kandidaten. In den letzten Jahren findet eine Analyse, die mit dem Begriff der „Polykrise“ in Verbindung gebracht wird, viel Zuspruch. Unser Problem, so der britische Historiker und Journalist Adam Tooze, der die „Polykrise“ populär gemacht hat, besteht darin, dass verschiedene globale Krisen, wie Klima, Ungleichheit oder Krieg nicht nur an sich komplex, sondern auch eng miteinander verflochten sind. Eine komplexe, wechselbezügliche Welt kann jedoch nicht mit herkömmlichen Methoden verstanden, geschweige denn gemanagt werden. 

Ich kann diesem Argument, welches Komplexität in den Mittelpunkt stellt, einiges abgewinnen. Wie Dave Snowden in seiner Arbeit rund um das Cynefin-Modell betont, unterscheiden sich komplizierte Umgebungen grundsätzlich von komplexen. Der Grad an exponentieller Nichtlinearität ist zugleich für die meisten Menschen sehr schwer zu fassen. Mir half ein Gedankenspiel, welches Dave Snowden in einem Workshop anführte: Stell Dir vier Punkte vor und schätze, wie viele verschiedene Verbindungslinien es zwischen diesen gibt. Es sind 64. Nun stell Dir 10 Punkte vor. Auf wie viele unterschiedliche Weisen können diese verbunden werden? Die Antwort sprengt mein Verständnis: über 3. Trillionen! 

Zugleich befriedigt mich die These der Polykrise auf einer tieferen Ebene nicht. So wie Journalisten, Politiker oder Technologen über die Polykrise sprechen, erscheint es möglich, mit besseren Technologien, Regulierungen und Berechnungen, das Klima, Ernährung, digitale Monopole oder mentale Gesundheit „in den Griff“ zu bekommen. Mehr Daten und bessere Algorithmen können uns helfen, komplexe Systeme in ihren Dynamiken umfangreich zu verstehen und daraus wirksame Maßnahmen abzuleiten. Dieser manage & control Ansatz stellt die grundsätzlichen Prämissen der kapitalistischen Moderne von Wachstum, Fortschritt, Effizienzsteigerung und Kontrolle nicht in Frage, sondern glaubt noch an deren Adaptabilität. Doch laufen Wachstumsverpflichtungen, unser materialistisches Weltbild und die Werte der Leistungsgesellschaft nicht auf einen ökologischen und sozialen Selbstmord hinaus? So wie Millionen von Menschen weniger „psychisch krank“ sind, sondern in einer ver-rückten Welt leben, greift die Einordnung der Polykrise zu kurz.

Unsere Krise – einfach nur Pech oder tiefere Gründe?

Erklärungsansätze, die versuchen näher an die Ursprünge der Symptome heranzukommen, sprechen mich mehr an. Die nicht davon ausgehen, dass es einfach Pech war, das Menschen fossile Brennstoffe entdeckten, die das Klima zerstören. Die Fragmentierung und Polarisierung nicht als unglückliche Folge von Komplexität ansehen. Die Desinformation und die Zunahme mentaler Probleme nicht als normale Begleiterscheinungen des Internets und von Social Media sehen. 

Die Frage nach den tieferen Gründen hinter den Krisen ist keine Gedankenakrobatik. 

Je nachdem welche Weichenstellungen wir identifizieren, werden wir unterschiedliche Antworten und Lösungsansätze verfolgen. Wenn wir nur Pech hatten und von Komplexität überrollt wurden, können wir auf bessere Methoden und technologische Fixes hoffen. Wenn wir jedoch davon ausgehen, dass der Status Quo das Symptom einer tieferen Schieflache ist, werden wir radikalere Veränderungen vornehmen müssen.

Jonathan Rowson vom britischen Think Tank Perspectiva argumentiert, dass wir von EINER Metakrise sprechen sollten. Einer Dynamik, die die verschiedensten Lebensbereiche durchzieht und zu deren Pathologien und Krisen führt. Für ihn, ebenso wie für eine Reihe anderer ForscherInnen, liegt die Quelle der Metakrise nicht auf der Ebene der Institutionen, Strukturen und Prozesse, sondern in einem gestörten Verhältnis vom Menschen zur Welt. Demnach liegt das Problem weniger im Außen, sondern im menschlichen Innenraum, in einer kulturell entstandenen, unvollständigen und verzerrten Wahrnehmung von Realität. 

Ausgehend von dieser verzogenen Beziehung zur Welt entwickelten unsere Vorfahren die kulturellen Normen und Werte, Institutionen und anderen äußeren Manifestationen, die wir heute als “normal” ansehen, obwohl sie uns an einen existentiellen Kipppunkt geführt haben.

Indem sie die subjektive Erfahrung des Seins bewusst einbeziehen, spannen die VertreterInnen der Metakrise einen größeren Rahmen auf. Sie fragen sich: Wie bildet sich Realität in uns ab? Welche Filter, welche kollektiven und individuellen Prägungen bewirken, dass wir bestimmte Aspekte von Realität einbeziehen und andere ausblenden?  

Im Fokus steht die subjektive Lebenserfahrung. Zwar sind innere und äußere Dimension untrennbar miteinander verwoben und beeinflussen sich wechselseitig. Doch innerhalb der sie prägenden und begrenzenden äußeren Strukturen gestalten Menschen fortwährend neue Lebensformen aus einer bestimmten inneren Haltung heraus, die mit ihrem jeweiligen inneren Erleben räsoniert, ihnen plausibel und wirksam erscheint. Die kognitiven und emotionalen Muster der Vergangenheit haben in diesem Verständnis zu den fundamentalen Krisen geführt. 

Um das planetarische und menschliche Wohlergehen zu gewährleisten, müssen wir uns dieser Muster bewusst werden und sie in uns transzendieren. In diesem Sinne zitiert Rowson einen Absatz aus Robert Pirsig’s 70er Jahre Kultbuch Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten:

Das wahre System, das wirkliche System, ist unsere gegenwärtige Konstruktion des systematischen Denkens selbst, die Rationalität selbst, und wenn eine Fabrik abgerissen wird, aber die Rationalität, die sie hervorgebracht hat, stehen gelassen wird, dann wird diese Rationalität einfach eine andere Fabrik hervorbringen. Wenn eine Revolution eine Regierung zerstört, aber die Denkmuster, die diese Regierung hervorgebracht haben, intakt gelassen werden, dann werden sich diese Muster in der nachfolgenden Regierung wiederholen.

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Im zweiten Teil dieses Blogposts beschreibe ich einige Erklärungsansätze, die von einem verzerrten oder unvollständigen Verhältnis zwischen uns und der Welt als Basis für die Metakrise ausgehen. 

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