Die Architektur der Trennung – Über unsichtbare Muster, kollektive Wunden und die Suche nach Verbindung

Das Eisberg Modell der Fragmentierung

Im letzten Jahr habe ich gemeinsam mit verschiedenen Gruppen immer wieder an dem Thema der Fragmentierung gearbeitet. Mittlerweile ist es ein Gemeinplatz zu sagen, dass wir in einer stark polarisierten und fragmentierten Welt leben. In diesem Blogpost möchte ich etwas näher auf unser Verständnis von Fragmentierung eingehen. Mit „uns“ meine ich mich und meine Inner Work Kolleginnen Bettina Rollow, Anjet Sekkat und Jana Schmitz, ebenso wie meine betterplace lab Kolleginnen, mit denen wir gemeinsam Ende Februar den Hearth Summit Berlin ausgerichtet haben.

1. Was verstehen wir unter “Fragmentierung”?

Das Erleben bzw. die Erfahrung, dass sich Perspektiven, Meinungen, Gedanken und Verhaltensformen gegenseitig ausschließen. Dass Unterschiede nicht nebeneinander bestehen können. Dass die Vielfalt der Welt nicht als „sowohl als auch“, sondern als „entweder-oder“ erscheint.

2. Über welche Ebene sprechen wir und über welche NICHT?

Es geht uns um unsere Erfahrung von Realität – nicht um Aussagen über Realität an sich. Wir könnten lange Diskussionen darüber führen, ob unsere heutige Welt fragmentierter ist als früher. Für beides lassen sich Belege anführen:
Für Fragmentierung sprechen etwa der Zerfall des transatlantischen Bündnisses, politische Polarisierung, weniger geteiltes Wissen durch Kommunikationsblasen, die zunehmende wirtschaftliche Ungleichheit.
Dagegen sprechen der globale Handel auf Rekordniveau, die wachsende Zahl internationaler Verträge, oder die Tatsache, dass noch nie so viele Menschen zwei- oder mehrsprachig waren wie heute.

Uns geht es also um unsere Wahrnehmung und unser Erleben von Spaltung und Trennung. Dies kann sich im Individuum unterschiedlich zeigen – etwa in Form von weniger Resonanzerfahrungen oder Sinnverlust. Viele von uns erleben Gespräche über brisante Themen wie Minenfelder, in denen jederzeit Trigger explodieren können. Vielleicht empfinden wir, dass die Kluft zu anderen Sichtweisen und Lebensformen sehr groß ist – und dass Menschen oder Gruppen mit gegenteiligen Meinungen in uns als „Feinde“ oder „Gegner“ auftauchen. Fragmentierung geht oft einher mit Gefühlen von Druck, Einsamkeit, Ausweglosigkeit oder Lähmung. Wir fragen uns womöglich verzweifelt, wie wir je wieder aus den vielen existenziellen Krisen herauskommen sollen – und sehen keine konsensfähigen Lösungen für große Probleme unserer Zeit: Klima, Armut, sexualisierte Gewalt, Wohnen, Überwachungskapitalismus aka Technofaschismus oder eines der vielen anderen Themen, an denen die Teilnehmerinnen des Hearth Summits arbeiten.

3. John A. Powell und die Krise der Trennung

John A. Powell vom Othering & Belonging Institute beschreibt die gegenwärtige Menschheitskrise als eine vielschichtige Krise der Trennung, die sich in vier zentralen Spaltungen manifestiert:
– der spirituellen Entfremdung von einer tieferen Quelle oder Schöpfung,
– der instrumentellen Beziehung zur Erde als auszubeutendem Objekt,
– der Abgrenzung von der nicht-menschlichen Mitwelt (Tiere, Pflanzen, Ökosysteme)
– sowie der sozialen Trennung zwischen „Weißsein“ und dem Rest der Welt als Folge kolonialer, rassistischer Machtstrukturen.

Gemeinsam wurzeln diese Trennungen in einem Selbstbild des isolierten, überlegenen Individuums und führen zu einem Verlust von Zugehörigkeit, Empathie und Verantwortungsgefühl. Powell sieht die Überwindung dieser Spaltungen nicht in technischen Lösungen, sondern in einem grundlegenden Wandel hin zu einem relationalen Selbstverständnis als Teil eines größeren lebendigen Zusammenhangs.

4. Fragmentierung als Symptom, nicht Ursache

In unserem Verständnis ist Fragmentierung weder ursächlich noch eine frei gewählte Entwicklung. Sie ist vielmehr eine Konsequenz, ein Symptom tiefer liegender Verzerrungen und Wahrnehmungsfilter. Im Vorfeld hatten wir das Bild eines Eisbergs entwickelt: Oberhalb der Wasseroberfläche liegen die vielen Krisen, die wir versuchen zu bewältigen. Doch sie sind ihrerseits nicht ursächlich, sondern die Konsequenz einer fragmentierten Weltwahrnehmung. Fragmentierung ist in diesem Bild die erste Schicht unterhalb der Wasseroberfläche – eine meist unsichtbare gesellschaftliche Architektur, die verhindert, dass wir uns als Menschen ausreichend verbunden fühlen, um gemeinsame Antworten auf äußere Krisen zu entwickeln.

5. Was liegt unter der Fragmentierungsschicht?

Unter der Fragmentierungsschicht wiederum verorten wir noch tiefere Ursachen: Dass wir die Welt und einander als so getrennt wahrnehmen – obwohl Systemtheoretiker, Weisheitslehrer, viele Philosoph:innen und Physiker:innen betonen, dass wir untrennbar verbunden sind – ist eine Folge von Traumatisierungen, Verletzungen und Überforderungen. Um uns vor diesen zu schützen, haben wir uns zusammengezogen, unsere Fühlfähigkeit eingeschränkt, uns in unseren mentalen Kopf zurückgezogen – und halten große Teile der Welt auf Abstand. Unsere Perspektive ist verengt, vieles erscheint nicht als Teil des Eigenen, sondern als etwas Fremdes, Anderes, Nicht-Ich im Außen. Diese Verletzungen können individuell sein, viele sind jedoch kollektiv-strukturell: patriarchale Strukturen, Sklaverei, Kolonialismus, Klassismus, Rassismus, Ableismus usw.

6. Ist Trauma wirklich kausal?

Einige meiner Gesprächspartner:innen zu diesem Thema sträuben sich, Trauma als maßgebliche Ursache für Spaltung und Trennung zu sehen. Sie verorten den Ursprung von Trennung vielmehr in evolutionär bedingten wahrnehmungspsychologischen und neurologischen Entwicklungen. Das Gehirn braucht Filter, um effizient zu funktionieren. Das evolutionäre Modell versteht Verhalten und emotionale Reaktionen wie Angst, Aggression oder Bindungsverhalten als adaptive Mechanismen, die im Verlauf der Stammesgeschichte dem Überleben dienten.

Doch Filter müssen nicht zwingend mit Spaltung oder Othering einhergehen. Ich kann die Welt differenziert und selektiv wahrnehmen, ohne mich selbst, andere Menschen, die Natur oder den Kosmos als getrennt zu erleben.

7. Fragmentierung, Differenzierung und Abgrenzung – eine Unterscheidung

Um unseren Fragmentierungsbegriff besser zu verstehen, hilft der Vergleich mit verwandten Dynamiken wie Differenzierung und Grenzsetzung.

Unter Ausdifferenzierung verstehen wir die Zunahme an Komplexität. Ein gesellschaftliches Beispiel ist die Berufsvielfalt: Anfang des 19. Jahrhunderts gab es in Deutschland einige Hundert Berufe, rund 75 % der Bevölkerung arbeiteten in der Landwirtschaft. Heute kennen wir über 10.000 formale Berufe, während nur noch 1,2 % der Menschen in der Landwirtschaft tätig sind. Diese Vielfalt ist nicht per se ein Konfliktfeld – ausdifferenzierte Lebenswelten können gut nebeneinander existieren.
Abgrenzung wiederum ist die gesunde Fähigkeit, bewusst eine Grenze zu ziehen – z. B. dort, wo meine Würde, Freiheit oder Sicherheit bedroht ist.

8. Beziehungsfähigkeit und Multiperspektivität als Gegengewicht

Das Gegenteil von Fragmentierung ist Beziehungsfähigkeit – die Fähigkeit, sich tiefer mit der Umgebung zu verbinden. Das schließt auch Menschen oder Perspektiven ein, die meiner eigenen Wahrheit oder Lebenserfahrung widersprechen. Wenn ich mich auf etwas beziehen kann, bin ich in der Lage, Unterschiede nebeneinander stehen zu lassen, statt sie auszuschließen, abzuwerten oder auszugrenzen. Das heißt nicht, dass ich sie gut finden muss – nur, dass ich mich einlassen und die Spannungen halten kann, die entstehen, wenn mehrere widersprüchliche Perspektiven in mir Platz finden.

Ein passendes Bild ist das der getrennten Räume: Wenn ich nur meine Perspektive akzeptieren kann, dann müssen Menschen mit anderen Sichtweisen automatisch in einem anderen Raum Platz nehmen – und die Verbindung bricht ab. Beziehungsfähigkeit dagegen ermöglicht, dass zwei oder mehr Perspektiven im selben Raum auftauchen können – samt aller Spannungen, die das mit sich bringt.

9. Fragmentierung erleben – und sie selbst mitverursachen

Ich kann selbst von Fragmentierung betroffen sein, ihr ausgesetzt sein – und ich kann sie zugleich erzeugen oder reproduzieren. Wie sehr wir uns bedroht oder berührt fühlen, hängt wahrscheinlich auch mit unserer sozialen Position zusammen. Wer privilegiert ist, der Mehrheitsgesellschaft angehört und gesellschaftlich mitgestalten kann, hat es meist leichter, mit Fragmentierung umzugehen. Wer marginalisiert ist und wenig Deutungs- oder Gestaltungsmacht hat, erlebt sie wahrscheinlich als bedrohlicher.
Ich sehe diese Unterschiede gerade sehr stark angesichts des Rechtsrucks in Deutschland. Während ich unsere demokratischen Strukturen für gefährdet halte, sehe ich aktuell keine Situation wie 1933. Viele Menschen in meinem Umfeld mit Migrationshintergrund erleben das anders. Sie entwickeln „Plan Bs“, überlegen, ob, wann und wohin sie auswandern sollten.
Gleichzeitig erzeugen wir alle auch Fragmentierung mit – durch gestresste, gepanzerte Anteile, in denen wir Schutz- und Überlebensmechanismen aktivieren. Die Held Collective hat eine sehr hilfreiche Sammlung von Othering-Strategien zusammen gestellt, darunter:

  • Reduktionismus
  • Überlegenheit
  • Bestrafung
  • Wrong-sizing
  • Ehrerbietung
  • Fragilität

Dadurch begegnen wir der Welt nicht offen und bezogen, sondern tragen dazu bei, dass sich viele Menschen, Dinge und Perspektiven gegenseitig ausschließen.

Die Schriftstellerin Lena Gorelik beschreibt dies sehr treffend in einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung:

Aus den Erfahrungen des Trennenden heraus vertrauen wir einander nicht mehr. Meinen zu wissen, wer die anderen sind. Was sie denken, was sie fühlen, was sie nicht mitfühlen können, was sie sagen werden, da haben sie noch nicht mal den Mund geöffnet. Wir ziehen die Trennlinien immer häufiger da, wo unsere Annahmen sie uns diktieren. Wir wiederholen das Trennende, zementieren es – diese Geschichten als Beweislast für unsere finstere und so verkorkste Realität, in der man immer häufiger allein ist mit den eigenen Gedanken, Meinungen, Erfahrungen, in der man unsicher ist: Wo gehöre ich hin – und wer gehört zu mir?

11. Warum wir Fragmentierung erforschen

Wir erforschen Fragmentierung nicht, weil wir masochistisch veranlagt sind und gerne leiden, sondern weil wir überzeugt sind, dass wir als Gesellschaft erst dann etwas wirklich Neues entwickeln können, wenn wir nicht mehr in getrennten Räumen sitzen. Wenn wir den Raum so vergrößern, dass in ihm auch widersprüchliche Perspektiven und Wahrheiten Platz haben. Unsere Intention mit Formaten wie dem Hearth Summit u.a. ist es, eine unsichtbare, aber wirkmächtige gesellschaftliche Architektur erfahrbarer zu machen – bewusster wahrzunehmen, wie allgegenwärtig Fragmentierung und Trennung sind: in uns, zwischen uns, zwischen uns und der Natur. Zu spüren, wie es sich anfühlt, davon betroffen zu sein – oder sie selbst zu reproduzieren.

Wenn Du magst, frage Dich selbst mal: Was sind meine persönlichen Mechanismen, um auf Fragmentierung zu reagieren? Wie schütze ich mich? Wie manage ich mich innerlich?
Denn erst wenn wir spüren, in welcher Suppe wir sitzen – und wie wir sie mitgestalten –, können wir nächste Schritte gehen: Auf Basis von Beziehungsfähigkeit und Multiperspektivität Wege in eine inklusive Zukunft gestalten.

Inner Work per Email gefällig?

Melde Dich für unseren Newsletter an und erhalte einmal im Monat unsere
neusten Beiträge sowie Termine zu unseren kostenlosen Webinaren per Email.