Anfang Januar war ich mal wieder einkaufen und erstand einen gelben Cashmere Pullover. Den trage ich seitdem täglich. Manchmal, morgens nach dem Duschen, überlege ich, ob ich etwas anderes anziehen soll. Aber dann stülpe ich ihn doch wieder über. Mein Verhältnis zu Kleidung hat sich in den letzten zwei Jahren total verändert. Ich verstehe mich immer noch als einen Menschen, der gute Mode mag. Aber stimmt das wirklich noch? Ist da nicht vielmehr eine Kluft zwischen mir und vielen Dingen, die ich früher, vor der Pandemie, als „meins“ angesehen habe, die mir wichtig waren, die ich akzeptiert habe, auch wenn sie Teil einer dysfunktionalen Industrie waren? Wieso fühlt sich das jetzt so anders an? Fragmentierter und unpersönlicher?
Diagnose: Überforderung, Traurigkeit, Hilflosigkeit
Auch Bettina spricht in den letzten Wochen immer wieder davon, dass sie sich so anders fühlt. Das sie Aspekten von sich begegnet, die sie früher gar nicht gekannt hat. Gefühle wie Erschöpfung und Sinnlosigkeit. Unsere Freundin Rivka, die als somatic coach in die Energiefelder vieler Menschen eintaucht, nimmt bei ihren Klienten das gleiche wahr: Überforderung, Traurigkeit, Hilflosigkeit.
Aber wieso denn ausgerechnet jetzt? Wo die Fallzahlen sinken und Lockerungen in Sicht sind? Wo ein Silberstreifen am Horizont auftaucht?
Nun zum einen müssen wir jetzt die neuesten Schocks verarbeiten: den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine und den IPCC Klima Report, der uns vorhersagt, dass weite Teile der Welt unbewohnbar werden.
Aber selbst wenn wir bei Corona bleiben: es ist ein bekanntes Phänomen, dass wir erst dann, wenn die akute Belastung weicht, wirklich fühlen können, was wir durchgemacht haben. Wir kennen das, wenn wir krank werden, sobald der Urlaub anfängt. In der Krisensituation schützt uns der Überlebenswille das ganze Ausmaß an Überforderung, Trauer oder Schock zu spüren. Erst wenn wir wieder mehr Kapazität haben realisieren wir, was geschehen ist. Tauchen Emotionen auf, die wir uns bislang nicht erlaubt haben.
Die Pandemie war (und ist) eine echte Herausforderung. Normalerweise haben wir unsere Vermeidungsstrategien und Kompensationen: wir fahren an den Strand in Thailand oder tanken auf dem City Trip neue Energie. Doch die Pandemie ist global und überall begegneten wir der gleichen Desorientierung. So bleibt uns nur eine Möglichkeit: wir müssen etwas neues über uns und das Leben lernen. Wir müssen als Menschen expandieren, um die neue Lage zu inkludieren.
Diese Tage wird uns so bewusst wie selten zuvor, dass in vielen Teilen der Welt die Menschen sowieso ständig im Krisenmodus sind. Sie sind mit Krieg, Naturkatastrophen, Armut und Gewalt konfrontiert und müssen sich ständig anpassen. Für uns Deutsche ist das eine Erfahrung, die wir seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr gemacht haben. Wir haben uns an ein stabiles, planbares und vielfach wohlständiges Leben gewöhnt. Umso schwerer fällt es uns mit Disruption, Instabilität und Unvorhersehbarem umzugehen.
Doch das ist die Botschaft von COVID (und dem Ukraine-Krieg, dem Klimawandel und der Armutsschwere usw.): Unsere Welt ist VUCA und wir müssen lernen beweglicher und resilienter zu sein.
Erst im Wechselspiel zwischen innerem Erleben und äußerer Welt entsteht Sinn
Aber haben wir das nicht gerade bewiesen? Dass wir in der Lage sind, mit der Krise umzugehen? Ganz anders zu arbeiten, im Home Office. Unsere Beziehungen neu zu gestalten, über Zoom und auf Spaziergängen. Doch statt stolz auf unsere Veränderungsfähigkeit zu sein, fühlen wir uns getrennt, fragmentiert und resigniert.
Obwohl wir in den letzten zwei Jahren ganz viele Sachen anders und neu gemacht haben, haben wir nicht das Gefühl, wirklich etwas Neues gelernt zu haben. Eine neue Kultur oder Lebenswelt erschaffen zu haben.
Und das hat einen guten Grund: Neue Lebenswelten entstehen aus dem Wechselspiel zwischen uns als Menschen und der äußeren Welt. Unsere subjektiven Veränderungen, neue Wahrnehmungen, Werte und Erfahrungen, erscheinen uns erst dann als „real“, wenn wir ihnen auch im Außen begegnen. Noch wichtiger wir brauchen dieses Wechselspiel zwischen unserem eigenen Erleben und der Welt um überhaupt Sinn und Motivation zu erleben. Je mehr ich in mir etwas anderes erlebe als die Welt mir im Außen widerspiegelt, desto fremder, desorientierter bis hin zu sinnloser fühle ich mich.. Damit wir wirklich verstehen, was wir alles in den letzten zwei Jahren gelernt haben, wo wir uns überall verändert haben, dafür müssen wir die verwandten Entwicklungen auch um uns herum sehen: in unserem Unternehmen, in der Politik, in der Wirtschaft.
Und genau dieses Wechselspiel fehlt. Wir haben uns als Menschen verändert. Doch die äußeren Strukturen und Prozesse sind die gleichen geblieben und unsere Institutionen möchten so schnell wie möglich zurück zum alten Status Quo:
Alle wieder zurück ins Office! Genau die gleiche Fast Fashion wie zuvor! Die Arbeitsbedingungen in Pflegeberufen haben sich nicht verbessert! Gas und Kernkraft gelten als klimafreundlich! Das kapitalistische Leistungsparadigma gilt auch weiterhin! Und so weiter …
In keinem dieser Bereiche fließen die tiefen Lernerfahrungen der letzten zwei Jahre so ein, dass sie wirklich spürbar sind. Und so erscheint es nur konsequent, dass dieser Spalt zwischen uns und der Welt Gefühle von Trennung, Sinnlosigkeit und Hilflosigkeit erzeugt bzw. intensiviert.
Was also nun? Wir stehen an einem Punkt, an dem wir unsere neuen Erfahrungen und Erkenntnisse in die Gestaltung der Welt einbringen müssen. Wir haben gelernt, wie wichtig menschliche Beziehungen (und wie viele Menschen einsam) sind. Wie wichtig Gesundheit und eine menschenzentrierte Medizin ist. Wie zentral Selbstfürsorge ist. Wie wichtig finanzielle Polster für unsere Unternehmen sind. Wie sehr Vertrauen eine Basis für gute Zusammenarbeit und Führung ist. Wie wenig Produktivität und Leistung uns in Zeiten tiefer Krise leiten können.. Wie essentiell Kunst und Natur für unsere innere Balance sind.
Diese Erkenntnisse werden nicht von heute auf morgen in unsere äußeren Lebenswelten einfließen. Und vor allem, werden sich unsere Institutionen und Systeme nicht von selbst verändern. Wir sind es, Du und ich, die sie peu a peu und jeder in seinem kleinen oder großen Bereich umbauen müssen. Dabei werden wir auf viele Widerstände stoßen, denn der alte Status Quo hat trotz aller neuen Erfahrungen viele Befürworter, die viel zu verlieren haben.
Um diesen Weg zu gehen, braucht es mindestens drei Dinge:
Wir müssen zu unseren neuen Erfahrungen stehen und lernen, sie noch präziser wahrzunehmen.
Wir können uns dabei gegenseitig unterstützen, indem wir offen und verletzlich zusammenkommen und uns austauschen.
Und wir werden noch viel mehr als bisher lernen müssen, mit der Spannung umzugehen, die unweigerlich entsteht, wenn das Alte nicht mehr da ist, aber das Neue auch noch nicht sichtbar ist.
Joana Breidenbach, Bettina Rollow, Rivka Halberhstadt
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