Dies ist der erste Teil einer vierteiligen Artikelserie, die sich mit Veränderungen und Veränderungsfähigkeit beschäftigt. Ich möchte erforschen, was sich hinter unser Unfähigkeit verbirgt, zeitnah wichtige Kurskorrekturen vorzunehmen: in unserem eigenen Leben, in Unternehmen, in der Gesellschaft. Dabei beziehe ich mich sowohl auf die Themen und Thesen, die Bettina Rollow und mich in unserem neuen Buch Die Entfaltete Organisation (2022) beschäftigen. Vor allem geht es darum, wie Innen und Außen zusammenhängen. Wie verhalten sich unsere äußere “Stuckness” in gesellschaftlichen, politischen und unternehmerischen Bereichen, zu unserer inneren Verfassung und Wahrnehmung?
Zugleich spanne ich – inspiriert durch die Lektüre von Iain McGilchrist’s neuem Monumentalwerk The Matter with Things (2021) – einen größeren metaphysischen Rahmen auf, der sich mit sehr existentiellen Fragen beschäftigt: Wie nehmen wir die Welt wahr? Wie ist die Beziehung zwischen unseren Aufmerksamkeitsstrukturen und der Außenwelt? Woher kommen Purpose und Werte? Was ist die Natur von Realität? Und: wie können wir flüssiger und damit wirksamer werden?
In diesem ersten Teil skizziere ich das Problem, beschreibe die Rolle von Digitalisierung und werfe einen ersten Blick darauf, wieso Verflüssigung ein erstrebenswertes Ziel ist.
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Heute morgen weckte ein Artikel über Asbest meine Aufmerksamkeit. Ich las, dass es schon im Jahr 1900 klare Hinweise darauf gab, dass der Baustoff für die menschliche Gesundheit schädlich war. Zur Mitte des 20. Jahrhunderts verdichteten sich die wissenschaftlichen Studien die belegten: Asbest war krebserzeugend und Millionen von Menschen fielen ihm zum Opfer. Doch trotz dieser erschütternden Beweislast und jahrzehntelangen Kämpfen von Medizinern, Aktivistinnen und Arbeitsrechtlern konnte sich die deutsche Politik erst 1993 zu einem generellen Asbestverbot durchringen.
Dieses kleine Beispiel trifft meinen Nerv. An ihm zeigt sich wie festgefahren wir sind. Unfähig, auch nur halbwegs zeitnah auf Herausforderungen so zu reagieren, dass wir ihre schlimmsten Folgen auffangen können. Mit zunehmendem Druck wird unsere Ohnmacht und Starre umso schmerzlicher. Überall begegnen uns festgefahrene Situationen, starre Institutionen, überholte Denkmuster, eklatante Ungerechtigkeiten. Und dabei gilt es gerade jetzt zu handeln. Neue Wirtschaftsformen zu entwicklen, die planetarische Grenzen respektieren. Den Sozialstaat und demokratische Institutionen so zu gestalten, so dass sie Teilhabe ermöglichen und tiefe menschliche Bedürfnisse befriedigen.
Diese Starre beschäftigt mich seit langem. Als ich jüngst nach meinem Lebenscredo gefragt wurde, antwortete ich spontan “Liquify Society” und meinte damit, wie sehr es mir daran liegt, Festgefahrenes wieder in Bewegung zu bringen. Und zwar auf verschiedenen Ebenen.
Wo sind wir festgefahren?
Wo soll ich anfangen?
Mit meinem eigenen Lebensgefühl. Wie oft bin ich “stuck”, spüre Druck und kreisende Gedanken und merke, wie meine Welt immer kleiner wird. Wie ich mich in mir selbst verheddere. In diesen Momenten bin ich nicht klar und orientiert. Ich bin nicht frei, eine Situation aus mehreren Perspektiven zu sehen und aus verschiedenen Optionen eine auszuwählen. Stattdessen gehe ich auf Nummer sicher, mache oder sage das Altbekannte und führe damit ein Muster fort, welches der Zukunft im Wege steht.
Die gleiche Dynamik begegnet mir in Unternehmen. Wie oft sind wir in Mustern gefangen, obwohl sie nachweislich nicht funktionieren? Führen Diskussionen mit unseren Kolleginnen, die sich mechanisch im Kreise drehen? Nehmen Projekte an, an die keiner von uns richtig glaubt? Etablieren neue Strukturen und Prozesse, und ahnen zugleich, dass auch dieser Change-Prozess scheitern wird.
Die festgefahrene Atmosphäre in Organisationen, in der es offensichtlich an frischem Sauerstoff fehlt, erscheint mir in vielen etablierten politischen und zivilgesellschaftlichen Kreisen nochmals potenziert. Der Mainstream zeichnet sich dadurch aus, dass Menschen mit Weltanschauungen und Haltungen identifiziert sind, die überhaupt nicht mehr aktuell sind. Die daran glauben, dass unsere Wirtschaft weiter so wachsen muss, wie bisher. Dass Menschen, die mehr leisten, auch mehr wert sind. Dass Hierarchien notwendig sind, um Komplexität zu managen. Dass ihr Ressort für dieses Thema nicht zuständig ist. Dass die anderen schuld sind.
In allen diesen festgefahrenen Bereiche – in mir, in Organisationen, in der Gesellschaft -stecken viel Expertise und Erfahrungen. Dadurch erscheinen sie so stabil, und sicher, real und wahr. Sie wiederholen das, was wir in der Schule gelernt haben. Was wir immer schon so gemacht haben. Was kluge Journalisten darüber schreiben. Und doch sind es genau diese Gewissheiten, Ideen und Handlungen, die gerade unsere Gesellschaften fragmentieren, unsere Natur zerstören, uns einsam und unglücklich machen.
Als Außenstehende merkt man schnell, wie oft der Gedankenraum, in dem eine Frage diskutiert wird, zu klein ist. Nicht genügend Kontext mit einbezieht und wie starr und steif das Etablierte ist. Doch wenn diese Außenstehenden, darunter soziale Innovatoren, Aktivistinnen und Künstler, neue Ideen beisteuern, bekommen sie wenig Gehör und werden als naiv und dilettantisch abgetan.
Diese Situation ist nichts neues. Schon Thomas Kuhn hat 1962 beschrieben, wie Paradigmenwechsel in der Wissenschaft nicht dadurch entstehen, dass sich bessere Ideen durchsetzen. Stattdessen halten Forscher an lieb gewonnenen Ideen fest und müssen sterben, ehe eine neue Perspektive mit einer neuen Generation von Wissenschaftlern Fuss fasst.
Dringende notwendige Änderungen, in Bereichen wie Klima, Demokratie oder sozialer Gerechtigkeit, verzögern sich deshalb nicht nur um Jahre, sondern Jahrzehnte und, wie das Beispiel Asbest am Anfang zeigt, sogar Jahrhunderte. Mit der exponentiellen Veränderungsgeschwindigkeit, die insbesondere durch digitale Technologien hervorgerufen wurde, vergrößert sich auch die Kluft zwischen dem Status Quo und dem, was für das Wohlergehen von Lebewesen und Planeten überlebenswichtig ist.
Und so komme ich immer wieder auf das Muster des Feststeckens zurück. Was genau steckt hinter dieser Verzögerung? Wie können wir unsere Kultur und unsere Institutionen wieder so flüssig machen, dass sie auf Veränderungen zeitnah reagieren?
2019 schrieb ich einen Medium Blogpost genau zu diesem Thema: Alles was fest ist, schmilzt in der Luft (Marx). Auf Teilaspekte dieses älteren Artikels werde ich im restlichen Teil dieses ersten Posts zurück kommen. Ansonsten versuche ich mich mit einem Update. Für unser neues Buch Die Entfaltete Organisation. Mit Inner Work die Zukunft gestalten (2022) dachten Bettina und ich nochmals neu über das Thema der Verflüssigung nach. Zeitgleich arbeitete ich mich durch das monumentale, zweibändige Werk des schottischen Neurologen, Philosophen und Universalgelehrten Iain McGilchrist The Matter with Things (2021) durch und fand dort viele unserer Überlegungen auf einer tieferen metaphysischen und naturwissenschaftlichen Ebene bestätigt und erweitert. Viele der Prozesse und Kompetenzen, die Bettina und ich als grundlegend für die Transformation von Unternehmen beschreiben, wie Präsenz, Multiperspektivität, Werte und Purpose werden durch McGilchrist’s Ausführungen auf eine metaphysische Ebene gehoben, die unserer Perspektive ähnelt, bzw. wieterführt.
Aus diesen verschiedenen Flughöhen betrachtet, erhoffe ich mir durch diese Artikelserie für mich und für euch, ein umfassenderes Verständnis unseres aktuellen Dilemmas, sowie mögliche Wege für nächste, konstruktive Schritte hin zu einer flüssigeren Welt, die wirksamer und zufriedener ist, da sie mehr auf die Gegenwart bezogen ist.
Digitale Technologien verflüssigen die Welt
Meine lange Faszination mit digitalen Technologien hat viel damit zu tun, dass sie die Welt verflüssigen, indem sie alte, festgefahrene Strukturen, Ideen und Identitäten auflösen und die völlig neu zusammensetzen. Damit setzt Digitalität eine Tendenz der Moderne fort, die Marx im Kommunistischen Manifest (1848) mit dem klanghaften Zitat „All that is solid melts into air“ beschrieben hat. Das Zitat, welches ich zum ersten Mal während meines Kulturanthropologie-Studiums in London las, bezieht sich auf die besondere Erfahrung des modernen Menschen innerhalb einer Lebenszeit zu sehen, wie sich eine alte Weltordnung auflöst und eine neue entsteht: Wie aus Bauern Fabrikarbeiter werden, Menschen vom Land in die Stadt ziehen, die Tage durch Elektrizität verlängert werden, völlig neue Konsumgüter verfügbar werden, neue soziale Bewegungen wie FrauenrechtlerInnen oder Gewerkschaften, entstehen.
Der Gedanke der Verflüssigung von Welt wurde für mich immer relevanter, je mehr ich mich seit dem frühen 21. Jahrhundert mit digitalen Technologien beschäftigte. Denn Digitalität verflüssigt feste Strukturen wie keine andere Entwicklung zuvor.
Im Jahr 1500 waren Segelboote die schnellsten Verkehrsmittel. Heute legt ein Jet die gleiche Strecke in einem Fünfzigstel der Zeit zurück. Gemessen an den jeweiligen Transportgeschwindigkeiten hat sich die Welt also zwischen dem 16. Jahrhundert und heute um das Fünfzigfache verkleinert. Durch das Internet wird aber auch diese geographische und zeitliche Distanz weitgehend aufgehoben. In keinem Bereich zeigt sich die Beschleunigung eindrucksvoller als auf dem Finanzmarkt. Wurde eine Aktie zu Ende des zweiten Weltkriegs durchschnittlich vier Jahre von ihrem Besitzer gehalten, so waren es im Jahre 2000 acht Monate. Der digitale Hochfrequenzhandel hat dazu geführt, dass 2011 eine Aktie durchschnittlich alle 22 Sekunden ihren Besitzer wechselte.
Alle Lebensbereiche werden durch digitale Technologien verflüssigt. Das Internet besteht aus unaufhaltbaren Strömen von Inhalten in Echtzeit. Nicht nur entstehen täglich neue Websites, Plattformen und Anwendungen, sie verändern sich auch kontinuierlich. Wo wir früher von starren Produkten und festen Institutionen umgeben waren — vom Brockhaus, der Schallplatte, dem Reisebüro oder Steuerberater — leben wir heute eingebunden in sich kontinuierlich verändernde Systeme und Prozesse. Wir kommunizieren in Echtzeit via E-Mail, Slack, Zoom und Signal. Wir streamen Musik und Filme. Wir übersetzen simultan Texte.
Diese Verflüssigung greift weit in die analoge Welt hinein. Mit Diensten wie Amazon Prime, Zalando und Getir gewöhnen wir uns an immer schnellere Warenlieferungen. Uber, Free Now und Tier erschaffen flüssige Marktplätze für Mobilität und machen das eigene Auto zunehmend überflüssig. Statt auf Reisen in Hotels zu übernachten, wohnen wir jetzt in AirBnBs.
Die Verflüssigung der Außenwelt macht sich auch in neuen Führungsstrukturen und Zusammenarbeitsmodellen bemerkbar. Im Zuge von New Work werden starre Hierarchien und feste Rollenbeschreibungen aufgelockert oder ganz aufgelöst. So haben wir in meinem Unternehmen, dem betterplace lab, eine radikale Form der Selbstorganisation eingeführt, bei der es keine Chefs und Managementpositionen mehr gibt. Stattdessen bilden Teammitglieder kompetenzbasierte Hierarchien, die sich je nach Aufgabe formieren und wieder auflösen, um für die nächste Aufgabe sich wiederum neu zusammenzusetzen.
Indem die digitale Welt Informationen auf Einsen und Nullen reduziert, können diese auf ihre kleinsten Einheiten reduziert werden. Die Welt wird dadurch extrem teil- und wandelbar. Prinzipiell kann alles mit allem kombiniert und ausgetauscht werden; zum Beispiel Reputation für Geld, Wissen für Aufmerksamkeit. Die Formbarkeit von Bits und Bytes verändert unseren Erfahrungshorizont und unsere Erwartungshaltung: wir gewöhnen uns an ein fortwährendes Beta und ständige Updates.
Flüssiger ist Realer
Die Welt, die uns in der Digitalisierung begegnet – schnell, beweglich, in kontinuierlicher Veränderung – ist eine adäquatere Annäherung an die faktische Realität als eine vermeintlich statische Welt voller fester Strukturen.
Schon der griechische Philosoph Heraklit beschrieb Leben als kontinuierliche Bewegung und Wandel. Panta Rhei – alles fließt, so soll Platon die Philosophie seines Vorgängers zusammengefaßt haben.
Bis zu einem gewissen Grad ist dieses Diktum für uns nachvollziehbar. Wir alle wissen um unserer eigenen Geburt und Tod. Samen verwandeln sich in Bäume oder Nährstoffe für andere Pflanzen. Steine werden zu Sand. Alle zwei Monate produziert der menschliche Organismus eine neue Leber.
In The Matter With Things geht Iain McGilchrist jedoch noch einen großen Schritt weiter. Unter Berufung auf Naturwissenschaftler, Philosophen und Mystiker argumentiert er, dass es gar keine festen Dinge gibt, sondern die ultimate Realität der Welt aus flüssigen Prozessen besteht. Seine Ausführungen werde ich im Folgenden immer wieder heranziehen. An dieser Stelle reichen mir ein paar erste Überlegungen zu festen Strukturen, „Dingen“ und „Materie.
Alles, was wir im Universum sehen und anfassen können, und als „Dinge“ und „Materie“ bezeichnen, ist für Gilchrist sekundär zu immateriellen Prozessen. Dinge ermergieren aus dem Fluss von Energiefeldern (dazu später mehr). Alle vermeintlich feste Dinge sind temporäre Erscheinungen. Je nach Maßstab kommen sie uns fest oder flüssig vor. So erscheinen uns die Pyramiden in Giza, die größten Steinbauten der Welt, als feste Objekte. Wenn wir aber ein größeres Zeitfenster betrachten, dann verflüssigen sie sich und wir sehen, wie vor Millionen von Jahren sich Sedimente von Einzellern auf dem Meeresboden als Kalkstein ablagerte, der vor über 4000 Jahren dann für den Bau der Pyramiden verwendet wurde. Auch alle anderen vermeintlich festen Formationen, beispielsweise Berge, haben im kosmischen Maßstab nur für kurze Zeit Ding-Charakter. Davor entstehen sie aus Ablagerungen oder Ausbrüchen, danach erodieren und verschwinden sie.
Wenn wir davon ausgehen, dass die Welt aus Materie, aus festen Formen besteht, folgen wir einer Weltsicht, die in der Antike mit Platon und Aristoteles entstand, die jedoch von vielen anderen Philosophen, ebenso wie modernen Quantenphysikern als Illusion des Beobachtungsmaßstabs angesehen wird.
Für Philosophen wie Schelling oder Bergson gab es keine statischen Dinge, nur Prozesse. Die Realität ist das, was wir erleben. Sie besteht aus der sich ständig verändernden Erfahrung und Präsenz, nicht aus vermeintlich festen Objekten, die wir sekundär wahrnehmen. Gemäß der berühmten Gedichtzeile von Yeats: “How can we know the dancer from the dance?“ sind Tanz und Tänzer nicht voneinander zu trennen. Es gibt Veränderungen, aber unter diesen liegen keine unveränderlichen Objekte, die sich verändern.
Ebenso sind für die Väter der Quantenphysik, wie Max Planck und Wolfgang Pauli nicht die Elementarteilchen die Bausteine der Natur, sondern kontinuierliche flüssige Felder, aus denen Partikel in einer Sekundärbewegung auftauchen. Pauli fragte sich: „Was bleibt von den alten Ideen von Materie und Substanzen übrig? Die Antwort lautet Energie. Dies ist die wahre Substanz, das, was erhalten bleibt; nur die Form, in der sie erscheint, ändert sich.” Und Max Planck formulierte in Briefen den gleichen Gedanken:”Nach all meinen Erkundungen will ich Ihnen sagen: Es gibt keine Materie als solche. Alle Materie entsteht und existiert nur aufgrund einer Kraft, die die atomaren Teilchen in Schwingung versetzt und sie in diesem winzigsten aller Sonnensysteme, dem Atom, zusammenhält… Wir müssen hinter dieser Kraft einen bewussten, intelligenten Geist vermuten. Dieser Geist ist der eigentliche Ursprung der Materie.”
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Ich werde später noch ausführlicher auf die Frage nach der Natur der Realität zurückkommen. Doch im nächsten Blogpost wird es zuerst einmal darum gehen, wie (vor allem im Westen) ein Weltbild entstand, in dem Materie, Form und Struktur als primäre Erscheinungsformen der Realität gelten. Dabei kommt McGilchrist’s faszinierende Forschung im Bereich der zwei unterschiedlichen Gehirnhälften ins Spiel.
Die Illustrationen in diesem Beitrag wurden von Midjourney generiert.