In einer informationsgefluteten Welt voller Lärm, Bilder und Anforderungen ist Aufmerksamkeit zu einer der umkämpftesten Ressourcen geworden. Aber Aufmerksamkeit ist nicht nur ein psychologisches oder wirtschaftliches Thema, sondern auch eine moralische Handlung. Was wir wahrnehmen – und was wir ignorieren – sagt etwas darüber aus, wer wir sind, was wir wertschätzen und wie wir mit der Welt umgehen. Im Umkehrschluss ist es möglich, unsere eigene Lebenswelt zu verändern, indem wir unsere Aufmerksamkeit bewusst (um)lenken.
Ich las den Satz „attention is a moral act“ zum ersten Mal bei Iain McGilchrist. Der Neurowissenschaftler und Philosoph beschäftigt sich in seinem monumentalen Werk, u. a. The Matter with Things (2021), mit den unterschiedlichen Wahrnehmungsformen der rechten und linken Gehirnhälfte. Beide zeichnen ein sehr unterschiedliches Bild der Realität. Vereinfacht gesagt versteht die linke Gehirnhälfte die Welt als eine Maschine, während die rechte Gehirnhälfte sie wie einen Organismus wahrnimmt. In einem gesunden Gleichgewicht übernimmt die rechte Gehirnhälfte die Führung, da sie den Überblick über das große Ganze behält, während die linke Gehirnhälfte wichtige Details beisteuert, die für das Handeln relevant sind. Doch westliche Gesellschaften haben seit der Antike – und noch stärker seit dem 17. Jahrhundert – die Wahrnehmung der Welt durch die linke Gehirnhälfte gegenüber der rechten Gehirnhälfte priorisiert – ein Ungleichgewicht, welches McGilchrist zufolge der maßgebliche Grund für die gegenwärtige Metakrise ist. (Ich habe seine Erkundungen dazu in mehreren Blogposts zusammengefasst, u. a. hier)
Worauf wir – individuell und kollektiv – unsere Aufmerksamkeit richten, ist demnach auch ein hochgradig politischer Akt und einer der maßgeblichen Beiträge, die jeder von uns zur Transformation der aktuellen Weltlage beisteuern kann.
Die Philosophin und Mystikerin Simone Weil war eine radikale Vertreterin der Auffassung, dass Aufmerksamkeit eine moralische Haltung ist. Für sie war „Aufmerksamkeit die seltenste und reinste Form der Großzügigkeit“ (Weil, Schwere und Gnade, 1952). Im Zusammenhang mit Gerechtigkeit und Mitgefühl glaubte Weil, dass echte Aufmerksamkeit – insbesondere für das Leiden anderer – Selbstentleerung erfordert: die Bereitschaft, das eigene Ego und die eigenen Absichten zurückzustellen, um sich ganz auf die Realität des anderen einzulassen.
Diese Art von Aufmerksamkeit ist nicht passiv. Sie ist ein Akt der Verletzlichkeit. Jemanden wirklich zu sehen, seinen Schmerz oder seine Komplexität anzunehmen, ohne sofort zu reagieren oder zu urteilen, bedeutet, sich dafür zu öffnen, von ihm verändert zu werden. Aufmerksamkeit ist in diesem Sinne die erste Bewegung der Liebe – und auch die Voraussetzung für Gerechtigkeit.
Aufmerksamkeit und Selbstwahrnehmung
Aufmerksamkeit hat viele Dimensionen. Das fängt damit an, welchen Sinneseindrücken ich in mir selbst Gewicht gebe. Bin ich habituell nur mit meiner mentalen Ebene identifiziert und höre vor allem meinen Gedanken und Ideen zu? Oder praktiziere ich eine Selbstwahrnehmung, die subtilere Signale und Bewegungen meines Körpers, meiner Gefühlswelt und meiner intuitiven Ebene miteinbezieht?
Aufmerksamkeit als politische und soziale Entscheidung
Was wir beachten, hat auch kollektive Konsequenzen. Aufmerksamkeit wird im digitalen Zeitalter extrem kommerzialisiert. Diese Entwicklung haben viele Medienwissenschaftler und Journalisten – u. a. Johann Hari in Stolen Focus – eindrücklich beschrieben. Wie der Autor und ehemalige Google-Ethiker Tristan Harris es ausdrückt: „Wir haben kein Problem mit Desinformation. Wir haben ein Problem mit Aufmerksamkeit“ (Center for Humane Technology, 2020).
In einem solchen Umfeld ist die Rückgewinnung der Souveränität unserer Aufmerksamkeit mehr als Selbstfürsorge – sie ist ein politischer Akt. Wer in der öffentlichen Debatte Aufmerksamkeit erhält – und wer nicht –, bestimmt, wessen Leben wertgeschätzt wird. So schenken privilegierte Menschen denen, die nicht wie sie sind, selten Aufmerksamkeit – und perpetuieren damit gesellschaftliche Unterdrückungsmechanismen. Ich kann mich aber auch kritisch selbst hinterfragen: Wem widme ich meine Wahrnehmung? Welchen Stimmen in der Gesellschaft höre ich zu?
Spirituelle und kontemplative Dimensionen
Viele kontemplative Traditionen haben seit Langem verstanden, dass Aufmerksamkeit auch eine spirituelle Disziplin ist. In der buddhistischen Meditation ist sati (Achtsamkeit) die Kultivierung anhaltender, ethischer Aufmerksamkeit – nicht nur für die eigene innere Welt, sondern auch für die wechselseitige Abhängigkeit des Lebens. Hier ist Aufmerksamkeit eine Form der Präsenz – und Präsenz ist heilsam. Wenn wir einem Kind, einer Pflanze, einem Weltgeschehen oder unserer eigenen Trauer ungeteilte Aufmerksamkeit schenken, beobachten wir nicht nur – wir gehen eine Beziehung ein. In dieser Beziehung entsteht Fürsorge.
Zu sagen, dass Aufmerksamkeit ein moralischer Akt ist, bedeutet, die ethische Handlungsfähigkeit zurückzugewinnen, die im Zentrum der Wahrnehmung steht. In jedem Moment stimmen wir mit unserem Blick, unserem Zuhören, unserem Wahrnehmen ab. Schauen wir angesichts von Leid weg, oder bleiben wir präsent? Konsumieren wir angesichts von Schönheit, oder ehren wir sie?
Ich empfinde diese Perspektive als ermächtigend. Sie bedeuten, dass jeder von uns, der sich fragt, was er oder sie aktuell angesichts des sich beschleunigenden Kollapses der Welt beitragen kann, sehr persönlich wirksam werden kann. Indem wir die dominanten, u. a. durch Trauma und Kapitalismus verzerrten Wahrnehmungsstrukturen demontieren und bewusst Alternativen praktizieren: unseren Körpersignalen vertrauen, Freundschaften vertiefen, Social-Media-Konten schließen, Menschen mit anderen Perspektiven zuhören, kritisch vorgekaute Konzepte hinterfragen, Bücher lesen, gut schlafen, nichtkommerzielle Hobbys pflegen.