Game Over?

Generiert mit Midjourney

In meine diesjährigen Sommerfrische, im Gasthof Briol in den Südtiroler Bergen, las ich ein Buch des Nachhaltigkeitswissenschaftlers Ingolfur Blühdorn, welches sich mit der Unhaltbarkeit der lang gehegten Vision einer inklusiven und ökologisch nachhaltigen Welt beschäftigt und das Scheitern der Visionen der Moderne hin zu einer “guten Welt für alle”, als Fakt begreift: Unhaltbarkeit. Auf dem Weg in eine andere Moderne (2024).

Ich gehöre selbst zu denen, die daran glaubten, das wir viele Pathologien der Geschichte innerhalb der nächsten Dekaden heilen könnten. Das die unzähligen alternativen Projekte, Initiativen und Graswurzelbewegungen eine große gesellschaftliche Wende in Gang setzen würden. Dabei war ich u.a. von Ulrich Beck beeinflusst, der in den 80er und 90er Jahren des letzten Jahrhunderts darauf setzte, dass der Druck der globalen Risikogesellschaft den notwendigen Wandel erzwingen würde. Wenn die realen Folgen der Klimakrise, der Ungleichheit, der autoritären politischen Kräfte wirklich spürbar würden, wir handeln müssten, um die ganz große Katastrophe abzuwehren. Diese Hoffnung, tiefe Krisen würden uns „wachrütteln“, neue Werte und Prioritäten hervorbringen und viele längst überfällige Reformen, Geschäftsmodelle und Politiken etablieren, erscheint mir heute naiv.

Dafür bräuchte es politischen Willen, internationale Koordination, individuelle und kollektive Selbstbegrenzung. Da lag ein anderer Soziologe, Niklas Luhmann, mit seiner These eher richtig: das nämlich funktional ausdifferenzierte Gesellschaften wegen der Unvereinbarkeit ihrer miteinander konkurrierenden Systemlogiken nicht in der Lage sind, Politik sinnvoll zu gestalten, Gesellschaft, Wirtschaft, Technologie zu steuern.

Das zerbrochene Weltverständnis

Blühdorn beschreibt wie die zentralen Werte der ModerneFreiheit, Autonomie, Demokratie, Nachhaltigkeitnicht an äußeren Gegnern scheitern, sondern an den dialektischen Spannungen innerhalb unseres Systems und unserer eigenen Unfähigkeit, sie praktisch zu leben. Wir bekennen uns nostalgisch zu diesen Werten, geben sie aber auf, wenn sie unseren Lebensstandard bedrohen. Kontinuierlich und stillschweigend verschieben wir die Grenzen, Schritt für Schritt, zugunsten des Status Quo.

Das ist auch eine „große Transformation“, nur eben nicht die, von der liberale Westeuropäerinnen wie ich träumten, für die wir unsere Unternehmungen gründeten und in Büchern und Vorträgen appellierten. Es ist die Transformation der Zumutbarkeitsgrenzen, nicht die der objektiven Umstände. Wir passen uns an, wir arrangieren unsdenn der Preis, den wir anderenfalls zahlen müssten, an Selbstbeschränkung, an Einschränkung unseres Lebensstils, unseres Selbstausdrucks, erscheint zu hoch.

Die immer offensichtlicher werdende Diskrepanz zwischen unseren Werten und den Entwicklungen in der Welt hin zu Autoritarismus, Überwachung, Klimakollaps, Ungleichheit etc. erzeugt aktuell in vielen Menschen eine tiefe, oft traumatische Desillusionierung und Orientierungslosigkeit. Auch die Vorstellung, wir als liberale Weltbürgerinnen wüssten besser als alle anderen, wohin die Reise gehen sollte, und müssten nur „die anderen“ überzeugenhat sich als Illusion entpuppt. „Die anderen“ wollen diesem Weg nicht folgen, und auch darin sind sie uns Spiegel. Denn wir alle haben Kompensationsstrategien entwickelt, um uns mit der Kluft zwischen Werten und Lebensrealität zu arrangieren.

Im Zentrum von Blühdorns Buch steht die Erkenntnis, dass wir nicht die freien, autonomen, vernunftgeleiteten Wesen sind, für die wir uns gerne halten. Diese Vorstellung war immer mehr Ideal als Realität, auch wenn wir uns in den letzten Dekaden enorme individuelle Freiheiten erkämpft haben. Doch schon bei Kant halten sich individuelle Entgrenzung die Waage mit kollektiven Begrenzungen, die notwendig sind, um allen Menschen ein gutes Leben zu ermöglichen. Und während wir letzteres teilweise erreicht haben, sind wir unfähig uns auf die ebenfalls notwendigen kollektiven Grenzziehungen zu einigen. Wir sind überfordert, unser Leben jenseits der festen Grenzen alter sozialer Ordnungen (Religion, Stand) gemeinwohlverträglich zu gestalten. 

Im Zuge dieser Überforderung erscheinen autoritäre Ordnungen immer attraktiver. Das betrifft nicht nur „abgehängte“ Globalisierungsverlierer, sondern ebenso konservative Unternehmer:innen, libertäre Tech-Eliten oder Menschen, die sich einfach vom „bürokratischen Ballast“ befreien wollen. Charakteristisch für die Spätmoderne ist, dass demokratische Ansprüche bereitwillig aufgegeben werden. 

Datensätze statt autonomes Selbst

Diese Befindlichkeit trifft mit der digitalen Revolution und insbesondere der Künstlichen Intelligenz auf eine verlockende Antwort: Diese hilft uns nämlich schon jetzt die unübersichtliche Optionenvielfalt zu managen und wird uns zukünftig noch mehr Lebensentscheidungen abnehmen. Algorithmen machen das Dickicht spätmoderner Komplexität überhaupt erst wieder lesbar und erträglich. Zudem versprechen sie gewaltige Verbesserungen und Kostenersparnisse in Bereichen wie Gesundheit, Sicherheit und Verwaltung. Vor dem Hintergrund unserer Bedürfnisse als Konsumenten und Bürger, als auch der aktuellen Macht/Monopolverhältnisse innerhalb der KI-Industrie, erscheint die Hoffnung auf eine demokratische Kontrolle der digitalen Revolution illusorisch. 

Stattdessen vollzieht sich im Zuge der KI-sierung der Welt ein kategorialer Sprung des menschlichen Selbstverständnisses: Im Zentrum stehen nicht mehrwie seit der AufklärungMenschen als autonome Subjekte, mit ihren Zielen nach Partizipation, Inklusion und Teilhabe, sondern statistisch erfassbare, administrativ und ökonomisch verwertbare Datensätze. Blühdorn beschreibt, wie die digitalisierte Gesellschaft sich immer weniger um natürliche Personen und autonome Subjekte dreht, sondern um Datensätze, die Menschen und Gemeinschaften angeblich abbilden.

An unseren eigenen Ansprüchen gescheitert, entlasten wir uns dadurch, Verantwortung und Entscheidungen an autokratische Machthaber und Algorithmen abzugeben und den Totalverlust des autonomen Subjekts nicht nur passiv hinzunehmen, sondern teilweise sogar einzufordern. Diese Entwicklung führt aber auch dazu, dass wir uns, so der Philosoph Thomas Metzinger, als „scheiternde Spezies“ wahrnehmen, da wir sehenden Auges in so viele Katastrophen hineinrennen und dabei unsere Selbstachtung und Würde verlieren.

Game Overund dann?

Blühdorn spricht von Game Over. Und meint damit nicht den Untergang der Welt. Sondern die Endzeit einer bestimmten, sich als alternativlos verstehenden, liberalen Weltsicht. Die Endzeit des Glaubens an den großen, koordinierten gesellschaftlichen Wandel in Richtung Gerechtigkeit, Ökologie, Menschenrechte.

Ich habe das Buch gerne gelesen und finde Blühdorns Argumente in vielem nachvollziehbar. Zugleich bin ich mir nicht sicher, ob ich so weit gehen würde wie der Autor, dass die Werte der Moderne unwiderruflich obsolet sind. Ich gehe eher davon aus, dass die Zukunft mich überraschen wird und auch die Werte der Aufklärung in vollkommen unvorhersehbaren Re-Kombinationen auftauchen können. In anderen Blogposts habe ich die These präsentiert, dass Werte an sich gar keine Menschen-gemachten Konstruktionen sind, sondern latent in der Schöpfung angelegte Orientierungen, die vom Menschen aufgespürt und in manifeste Strukturen überführt werden.

In jedem Fall bleibt nach der Lektüre von Unhaltbarkeit die Frage, was diese Analyse für uns als Individuen bedeutet. Wie kann ein ganzheitliches Leben in einer fragmentierten Welt gelingen? Eine Antwort darauf liegt für mich darin, mich möglichst tief mit der Welt zu verbinden, wie sie gerade ist. Und dafür hat dieses Buch meinen Blick hilfreich geschärft.

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