In vielen Teams, mit denen Bettina arbeitet, taucht immer wieder dieselbe Frage auf: Wie kann es gelingen, dass Teammitglieder mehr Verantwortung übernehmen, selbstständiger entscheiden und sich stärker selbst führen? Häufig bringen Führungskräfte dieses Anliegen mit – nicht zuletzt, weil sie sich in der wachsenden Komplexität ihrer Aufgaben Entlastung erhoffen. Doch auch von den Teammitgliedern selbst kommt der Ruf nach mehr Mandat. Der Wunsch nach Selbstführung entsteht also oft von beiden Seiten. Und doch zeigt sich in der Praxis: Sich als Team gemeinsam und eindeutig dazu zu positionieren, ist alles andere als einfach.
Ein zweidimensionales Denkmodell
Wer über Selbstführung spricht, bewegt sich meist zunächst in einem zweidimensionalen Denkmodell. Die Idee: Selbstführung und Fremdführung bilden zusammen eine Art Gleichgewicht – was ich nicht selbst führe, wird von außen geführt, und umgekehrt. Zusammen ergeben sie 100 Prozent. Bettina nutzt genau dieses Bild gerne als Einstieg in Teamprozesse und stellt die Frage: Wie verteilt sich in deiner Rolle diese Balance? In der Tendenz kommen dabei oft Werte zwischen 70 und 90 Prozent Selbstführung heraus – der Anteil an Fremdführung ist entsprechend gering. Das wirft eine berechtigte Anschlussfrage auf: Wenn der Selbstführungsanteil ohnehin schon so hoch ist, warum beschäftigen wir uns dann überhaupt mit der Frage nach mehr davon?
Die Antwort liegt in der Tiefe des Modells. Denn die 2D-Betrachtung – so hilfreich sie als Einstieg sein mag – greift zu kurz. Um wirklich zu verstehen, worum es bei Selbstführung geht, müssen wir das Modell in den Raum stellen, es also um eine dritte Dimension erweitern. In der 3D-Betrachtung zeigt sich: Selbstführung ist nicht nur eine Frage der Verteilung, sondern auch eine Frage der Ebene, auf der sie stattfindet.
Auf der ersten Ebene geht es um die Selbstorganisation des eigenen Arbeitsalltags. Wer hier selbstführend ist, weiß, was zu tun ist, setzt Prioritäten, plant seine Arbeit und erledigt Aufgaben weitgehend eigenständig. Für viele Rollen ist das heute selbstverständlich – wer diese Form der Selbstführung nicht mitbringt, kommt oft gar nicht erst in die Position. Berufseinsteiger:innen sind hier die Ausnahme, weil sie sich diese Fähigkeit erst erarbeiten müssen.
Wie sehr gelingt es mir Teamdynamiken und größere Trends miteinzubeziehen?
Anders sieht es aus, wenn der Radius größer wird. Sobald es nicht mehr nur um die eigene Arbeit geht, sondern um das Zusammenspiel mit Kolleg:innen, Schnittstellen oder anderen Teams, wird Selbstführung komplexer. Es reicht nicht mehr, sich selbst zu organisieren – es braucht Überblick, Abstimmung und die Fähigkeit, gemeinsam Entscheidungen zu treffen. Genau hier sinkt in vielen Teams der gefühlte Anteil an Selbstführung. Nicht, weil der Wille fehlt, sondern weil oft unklar ist, wer überhaupt entscheiden darf. Wenn keine formellen Strukturen greifen, wird das Mandat zur Verhandlungssache. In diesen Situationen zeigt sich, was Selbstführung wirklich meint: Nicht nur Entscheidungen treffen, sondern sie im Miteinander entwickeln, gemeinsam Verantwortung tragen, Rollen klären, Handlungsspielräume aushandeln.
Die dritte Ebene bringt noch mehr Komplexität. Hier geht es um den Blick auf das große Ganze – auf die Organisation, ihre Dynamiken, ihre Entwicklungen. Selbstführung in dieser Dimension bedeutet, über den eigenen Arbeitsbereich hinauszudenken, strategische Zusammenhänge zu erkennen, Handlungsbedarfe zu benennen und Initiative zu übernehmen. Diese Fähigkeit schreiben wir traditionell Führungskräften zu. Doch je selbstorganisierter Teams arbeiten, desto stärker braucht es auch Kolleg:innen, die sich auf dieser Ebene sicher bewegen. Genau das ist jedoch selten der Fall. In vielen Teams wird hier der niedrigste Anteil an Selbstführung erlebt.
Das liegt nicht allein an der individuellen Kompetenz, sondern oft an strukturellen Hürden. Denn wer auf dieser Ebene selbstführend handeln will, braucht Zugang zu relevanten Informationen, Beteiligungsformate, Entscheidungsräume – und eine Organisation, die diese Art von Partizipation tatsächlich mitträgt. Allzu häufig zeigt sich ein widersprüchliches Bild: Der Wunsch nach Selbstführung ist da, wird aber stillschweigend an eine Bedingung geknüpft – nämlich dass weiterhin im Sinne der bisherigen Führung entschieden wird. Wirkliche Selbstführung kann unter diesen Voraussetzungen nicht entstehen.
Wenn Organisationen also ernsthaft mehr Selbstführung ermöglichen wollen, reicht es nicht, Teammitglieder dazu zu ermutigen. Es braucht auch die Bereitschaft derjenigen, die bislang geführt haben, loszulassen. Genau das ist oft anspruchsvoller, als es scheint. Denn Selbstführung bedeutet nicht Kontrolle, sondern Vertrauen – und die Fähigkeit, Führung anders zu denken.
Wie Führung konkret gestaltet sein kann, um Selbstführung wirklich zu ermöglichen, wird Thema eines unserer nächsten Blogbeiträge sein.