Schrumpfen und Wachsen an der Grenze – Ein persönlicher Erfahrungsbericht

Illustration generiert mit Midjourney
Illustration generiert mit Midjourney

Vor kurzem schrieb ich einen Blogpost zu Grenzerfahrungen. Ich fragte: Was ist eine Grenze? Wie merken wir, dass wir eine Gtrenze berühren? Welche Strategien haben wir entwickelt, um Grenzerfahrungen zu managen? Was will die Grenze von uns? In dem Artikel ging es auch darum, wie subjektiv Grenzerfahrungen sind; eine Situation, die für einen Menschen extrem herausfordernd ist, kann für jemand anderen einfach sein. Aber auch: je nach aktueller Verfassung kann eine Erfahrung uns mit Grenzen konfrontieren, die wir zu einem anderen Zeitpunkt nicht als solche wahrnehmen oder gut bewältigen können.

Das Thema Grenzerfahrungen erforschte ich gemeinsam mit Bettina und den Teilnehmer:innen unseres Online Kurses Die entfaltete Organisation. Wenn du bei der nächsten Runde im September dabei sein willst, kannst du dich hier unverbindlich auf die Warteliste setzen.

Als ich den Post veröffentlichte, wusste ich nicht, dass ich selbst kurz vor einer Grenzerfahrung stand. Diese möchte ich euch als anschauliches Beispiel beschreiben, um sie zugleich auch für mich schreibend zu reflektieren.

Meine Grenzerfahrungen haben wenig mit der Arbeitswelt zu tun, denn mit diesem Aspekt meines Lebens kann ich ziemlich frei umgehen. Unsicherheiten, Misserfolge oder Niederlagen tun mir mitunter weh, ich bin aber nicht so mit ihnen identifiziert, dass sie mich existentiell herausfordern. Meine Achillesferse sind Themen rund um Gesundheit. Dies hat biographische Wurzeln, auf die ich hier auch etwas eingehen werde. Aber nun zu der aktuellen Grenzerfahrung und dendie Lehren, die ich daraus gerade für mich ziehe.

Warten auf die Diagnose

Vor einigen Monaten wurde an meinem Hinterkopf eine Hautstelle entdeckt, die in seriellen Operationen – bis heute vier, zwei weitere stehen an – herausgeschnitten werden musste. Bei der letzten OP sah der Arzt eine weitere verdächtige Hautstelle und entnahm eine histologische Probe. Alarmiert, fragte ich ihn, was das sein könnte. Er meinte, es könnte ein pigmentierter weißer Hautkrebs sein, oder aber auch ein schwarzer Krebs (Melanom). Wissen könnten wir das erst nach der Laboruntersuchung. Ich sollte in einer Woche anrufen, um das Ergebnis zu erfragen. 

Die Erwähnung eines Melanoms erzeugte in mir unmittelbare Panik. Der Trigger kommt aus meiner frühesten Kindheit, als mein Großvater mütterlicherseits sehr jung an den Folgen eines Melanoms starb. Infolge dieser Erfahrung verfolgte meine Mutter alle Pigmentveränderungen an Muttermalen mit Argusaugen und versetzte mich als Kind oft in Angst, wenn sie in regelmäßigen Abständen mit Grabesstimme verkündete: “Ich weiss, was das ist, iIch werde es nicht sagen. Aber es ist ein bösartiger Hautkrebs und ich werde nicht mehr lange leben”.  

Ziemlich geschockt verließ ich die Hautarztpraxis. Ich hatte in der Woche viele Termine und versuchte die immer wieder aufkommenden angstvollen Gedanken mit rationalen Argumenten zu besänftigen. Um mit der Metapher der Grenze zu spielen: ich schlingerte im Vorhof der Grenze herum, stabilisierte mich aber ausreichend gut durch äußere Strukturen (Arbeit, Austausch, Bewegung) und innere Praktiken (Meditation, Journaling, Triadengespräche). Punktuell stand ich jedoch immer wieder sehr unter Druck. Mein Vagusnerv war sehr angespannt, ich war appetitlos, meine Gedanken zirkulierten um eine lebensbedrohliche Diagnose. 

Ein Teil meiner Angst erschien mir total natürlich und normal. Für die meisten Menschen dürfte das Warten auf einen potentiell bösartigen Krebsbefund sehr stressig sein. Zugleich ging mein Stress weit darüber hinaus. Es war, als wenn ein chronisch sehr gestresster Organismus einen weiteren Schock erhielt, der das Fass zum Überlaufen brachte. So wurde aus einer sehr unangenehmen Situation eine wesentlich herausfordernde Grenzerfahrung.

Loslassen und Prozessieren im therapeutischen Kontakt

Ich legte mir zwei online Sessions bei meiner Therapeutin, einer amerikanischen NARM-Praktikerin. In dem größeren Bewusstseinsraum einer eingestimmten Therapiesitzung konnte ich den psychischen und physischen Druck, der durch mein Halten entstand, teilweise auflösen. Die Therapeutin half mir, meine aktuelle angstvolle Wahrnehmung im größeren Kontext zu sehen. Ich konnte mich in mein Familiensystem einfühlen, das infolge einer tiefen Verstrickung ins Naziregime, an vielen Stellen taub, depressiv und traumatisiert ist und in dem viele Ängste von meinen Eltern auf mich als Baby und Kind unbewusst übertragen wurden. In meinem Elternhaus, in dem die Erwachsenen von ihrem eigenen Erleben überwältigt waren und alle Kraft darauf verwandten, sich selbst zu managen, war wenig Raum für meine kindlichen Emotionen und Bedürfnisse. In diesen Sitzungen konnte ich emotional nachvollziehen, wie ich Gefühle, wie Angst und Trauer, nicht im Kontakt mit einem größeren und stabileren elterlichen Nervensystem hatte beruhigen können. Sondern wie ich gelernt hatte, mich zusammenzuziehen, um den überwältigenden Gefühlen im wörtlichen Sinne Stand zu halten. 

Meine Kontrolle- und Haltefunktionen sind seitdem sehr gut ausgeprägt. Eine Kompetenz, die mir im weiteren Leben in vielen Bereichen zu Gute gekommen und maßgeblich an meinem “Erfolg” beteiligt ist. Doch starke emotionale Kontrolle und körperlicher Halt schränken mich auch deutlich ein. Sie verfestigen meine Identität und verhindern, dass ich Gefühle flüssig durch mich durchleiten kann. Stattdessen bleiben sie stecken. Sie fühlen sich schlichtweg zu gefährlich an, als dass ich ihnen offen begegnen und sie in mir verarbeiten kann. In den Therapiestunden merkte ich, wie gut es mir tat zu weinen. Welche Entspannung in diesem körperlichen Loslassen steckte und wie ich die starre Grenze in mir dadurch etwas erweitern konnte. 

Ich nahm mir in den folgenden Tagen immer wieder Zeit, dem Druck nachzuspüren und ihn weinend zu entladen. Tränen gehören nicht zu meinem alltäglichen Verhaltensrepertoire und ich traute mich erst, dieser “Praxis” nachzugehen, nachdem eine Freundin mir erzählte, dass sie sich regelmäßig Zeit zum Weinen nimmt, um die vielen traumatischen Begegnungen in ihrem Arbeitsumfeld zu verdauen. 

Zwei Tage bevor ich das Ergebnis der Gewebeprobe erhalten sollte, nahm die Angst jedoch stark zu. Ich war mittlerweile in Südfrankreich angekommen, wo ich gerade eine Residency für Künstler und Aktivistinnen aufbaue. Doch die Grenze kam immer näher und ich konnte ihr nicht entweichen. Ich erlebte sie als inneren Panikraum und körperlichen Überlebenskampf. Meine Gedanken verengten sich immer mehr: mittlerweile war ich davon überzeugt, schwer krank zu sein. Mein innerer Druck war so stark, dass ich mir nicht vorstellen konnte, dass dieser emotional-körperliche Extremzustand jemals ein Ende haben würde. Meine ganze meditative Praxis, die vielen wundervollen Erkenntnisse und Weisheiten, die ich in den letzten Jahren erfahren durfte, erschienen zu diesem Zeitpunkt unzureichend. 

Lernen an der Grenze

In meinen Meditationen lernte ich aber auch etwas über die Grenze. Immer wenn es mir gelang, an tiefe, stille Plätze in mir zu kommen, also einen intimen Selbstkontakt herzustellen, öffnete sich der energetische Raum um mich. Damit ließ der Druck nach und mehr Informationen tauchten auf. Manchmal konnte ich 30, 45 oder 60 Minuten ganz in Präsenz sein. In diesem Zustand spürte ich keine Angst, sondern fühlte mich selbst und eine essentielle Verbindung zum Leben. Doch kaum wurde mein Bewusstsein wieder aus der Gegenwart abgezogen, ergriff mich der Strudel der Angst. 

Ich nahm eine Online-Session bei einer Freundin, die als somatischer Coach arbeitet. Sie stimmte sich auf den energetischen Zustand meines Körpers ein und ihre Anweisungen – “beobachte die Spannung in der linken Schulter”, “atme in deinen unteren Bauch” – ermöglichten es mir, neue emotionale Bewegungen wahrzunehmen. Ich tauchte tief in einzelne biographische Wendepunkte meiner Familie ein, nicht mental, sondern gefühlt. Ich konnte die Energetik, den subtilen Abdruck einzelner Ereignisse in meinem Leben (und der meiner Vorfahren) kontaktieren. Je realer meine frühe Kindheit und insbesondere die Beziehung zwischen mir und meiner Mutter in mir auftauchte, desto mehr konnte ich mich mit meinen verzerrten und zusammengezogenen Wahrnehmungen desidentifizieren. Ich war jetzt jemand anderes, da ich mich mit einem größeren Gefühlsraum und einer größeren Geschichte identifizierte als noch wenige Minuten zuvor.

Ich sah, wie ich seit meiner Kindheit eine eingefaltete Gefühlswelt als “sicher” und daher “normal” kennengelernt hatte. Wie ich mich bis heute in einer bestimmten Frequenz des Lebens – schnell, hochtourig, angeregt, mental – sicher und gut fühle. Und zugleich andere Zustände, “chillen”, Entspannung, Kontrollverluste – unbewusst vermied. Denn diese fühlten sich gefährlich an. Jetzt an der Grenze dessen, was ich noch halbwegs gut aushalten konnte, angekommen, musste ich die Ängste konfrontieren. Und wenn ich mich tiefer auf sie einließ und in die Gegenwart abtauchte, wurde ich eines stilleren, tieferen, sanfteren Raums in mir gewahr, mit dem ich mich sonst nicht identifizierte. Dieser Raum war “jenseits meiner Grenze”. Er ließ mich ahnen, wie mich meine Grenze/meine Identifikation mit einem bestimmten Seins-Zustand zwar vor potenziell überwältigenden Erfahrungen schützte, aber auch, welche Empfindungen mir dadurch vorenthalten wurden. Könnte ich diese Grenze erweitern? Mich mehr mit diesen zarten, fragilen Facetten verbinden, ohne von ihnen überfordert zu sein? War die Grenze, die ich so starr in mir spürte, vielleicht in der Form gar nicht mehr nötig, da ich als Erwachsene besser mit starken Gefühlen umgehen konnte, als als kleines Kind? 

Eigentlich hätte ich nach 24 Stunden von meinem Angstzustand erlöst werden können. Aber das Labor lieferte die Resultate erst drei Tage verspätet. Jeden Morgen rief ich den Hautarzt an, um zu hören, dass vom Labor noch nichts gekommen war. Ich übte Druck aus, man solle im Labor nachfragen, heute, sofort, jetzt. Aber die Ergebnisse kamen nicht rein. Vor mir lagen weitere, lange Tage des angstvollen Wartens.

Ich versuchte mich mit Spazierengehen, Yoga und Meditation, Gesprächen mit Freunden und Körperkontakt mit meinem Mann zu beruhigen. Letzterer half mir, mich immer wieder auf mein Erwachsenen-Ich zurück zu besinnen, in dem er mich mit Fakten versorgte: so liegt die Überlebensrate bei frühzeitig diagnostiziertem schwarzen Hautkrebs bei 93%, wir kannten kompetente Ärzte und ich hatte schon einmal, vor 10 Jahren, eine Krebserkrankung gut gemeistert. Doch so wertvoll diese Informationen für meinen Verstand waren, mein Kinder-Ich zeigte sich wenig beeindruckt. 

Als dann nach insgesamt 11 Tagen das Laborergebnis bereit lag, ich mit dem Arzt telefonierte und erfuhr, dass es sich bei der untersuchten Hautprobe um kein Melanom handelte, löste sich mein angespannter Erregungszustand auf. Innerhalb von einer Sekunde war ich wieder in meiner Komfortzone angekommen. Es dauerte noch einige Tage, bis sich meine Anspannung weiter abbaute und momentan versuche ich nicht gleich wieder in meinen geschäftigen Default zurückzufallen, in die mir so wohl vertraute busy-busy Frequenz, sondern die Grenzerfahrung zu verdauen und wenn möglich auch daraus zu lernen. 

Jenseits der Grenze ist jenseits der Identifikation

Ich ziehe aus dieser Erfahrung ein paar praktische Impulse; beispielsweise mir Ärzt:innene auszusuchen, denen ich nicht nur fachlich, sondern auch menschlich vertraue (was in diesem Fall nicht gegeben war). Mein Netzwerk aus kompetenter therapeutischer Unterstützung weiter zu pflegen. Mich zu trauen, meine Freund:innene um Hilfe zu bitten – etwas, was meiner Prägung mit Schwierigkeiten alleine umzugehen, erstmal zuwiderläuft. 

Bis zu einem gewissen Grad können wir uns auf Grenzerfahrungen vorbereiten. Ich jedenfalls war unendlich dankbar für meine langjährige Meditationspraxis, die mir in den letzten Tagen immer wieder Stunden der verhältnismäßigen Entspannung verschaffte und die es mir ermöglichte, mehr mit der Angst zu sein, statt ihr nur fluchtartig ausweichen zu müssen. In den Augenblicken, in denen ich mich tiefer mit der Angst verbinden konnte, bekam ich ein Gefühl dafür, was jenseits der Grenze meiner eigenen Identität und Belastbarkeit liegen könnte. Ich konnte die Freiheit erahnen, die darin liegt, mich nicht so mit der Person zu identifizieren, die ich gerade bin. 

So lässt mich meinediese Grenzerfahrung mit dieser tieferen Erkenntnis zurück: die Grenze ist dort, wo ich mich mit einer Version meiner selbst konfrontiert sehe, die für das aktuelle Geschehen zu klein ist. Punktuell konnte ich während dieser belastenden Tage sehen, dass meine Identifikation mit einer bestimmten Form von Selbst/Ego die Grenze darstellte und dass es eine Möglichkeit der Des-Identifikation gab. In kurzen Augenblicken hatte ich Zugang zu einem größeren Bewusstsein, in dem ich sah, wie mein tief verinnerlichtes Selbstverständnis, z.B. als jemand, der anderen hilft, aber nicht selbst bedürftig ist, mich einsperrt. In anderen Momenten konnte ich mich als Teil einer viel größeren Lebensbewegung sehen, als ein Glied zwischen meinen Großeltern und Eltern und meinen eigenen Nachfahren. 

Die Grenzerfahrung ist ein Paradox: sie zeigt mir, wo ich von der Welt getrennt und abgeschnitten bin. Zugleich eröffnet sie mir das Potential, mich tiefer mit dem, was jenseits liegt, zu verbinden, mehr Realität in mir abzubilden. 

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