Wir leben in einer Zeit des Absoluten: absolute Meinungen, absolute Wahrheiten, absolute Forderungen.
Dieser Trend macht auch vor der Organisationsentwicklung nicht halt. Im letzten Jahr konnte Bettina beobachten, das immer mehr ihrer GesprächspartnerInnen extreme Positionen rund um Führung und Zusammenarbeit vertraten. Die einen sprachen sich vehement für mehr authoritäre Führung aus, während die anderen die Zeit für komplette Selbstführung gekommen sahen. Gegenteilige Ansichten wurden meist pauschal weggewischt.
In dieser Gemengelage schrumpft der Raum für Grautöne, Perspektivübernahmen, Empathie und selbstkritische Reflektionen. Statt anzuerkennen, dass komplexe Fragen, wie die nach den passenden Führungsmodellen, immer die eigene Wahrnehmung spiegeln und individuell interpretiert werden, versteifen sich die Protagonisten auf vermeintlich unumstößliche Wahrheiten.
Die Realität ist differenziert
Dabei ist die Realität, wie die folgenden zwei Praxisbeispiele zeigen, viel differenzierter.
Viele Menschen setzen ausgeprägte hierarchische Strukturen mit autoritärer Führung und flache Hierarchien mit Selbstorganisation gleich. Je nachdem, mit wem man spricht, ist das eine oder andere zu bevorzugen. Dabei ist die Grundaussage falsch. Wie steil oder flach eine Hierarchie ist, sagt nichts über den Führungsstil der beteiligten Menschen aus. Es beschreibt lediglich, in wie vielen Abstufungen Arbeit in der Organisation delegiert wird und wie groß die Führungsspannen sind, d.h. wieviele Menschen einer Führungskraft direkt unterstellt sind.
In wiefern Mitarbeitende innerhalb einer Hierarchie fremdgeführt werden, ob sie sich zum großen Teil selbstführen oder sie sich gegenseitig, kollegial, führen, läßt sich aus einem Organigram nicht ablesen.
In manchen Organisationen mit flachen Hierarchien wird sehr direkt geführt, ebenso wie in Unternehmen mit vielen Ebenen sehr selbstständig gearbeitet werden kann. Die Form an sich läßt keinen Rückschluss auf die Werte und Qualitäten zu.
Diese falschen Annahmen reduzieren die unendliche Vielfalt möglicher Zusammenarbeitsmodellen auf die falsche Polarisierung “autoritär” und “selbst organisiert”. Damit verstellen sie den Weg für eine reife und ausdifferenzierte Betrachtung und Gestaltung.
Eine ähnliche Dynamik erlebt Bettina immer wieder rund um das Thema Entscheidungsmandate, unser zweites Beispiel.
Wenn eine Person das Mandat bekommt, Einzelentscheidungen zu fällen, reagieren Teams darauf oft mit Spannungen. Sie befürchten, die InhaberIn der Rolle wird ihre absolute Macht nutzen und Entscheidungen fällen, ohne die KollegInnen zu berücksichtigen. Doch das ist eine Unterstellung. Denn nichts spricht dagegen, dass die MandatsträgerIn ihre Entscheidungen partizipativ gestalten kann und sich beispielsweise von Kollegen aktiv beraten lässt und deren Perspektiven in die Entscheidung adäquat miteinbezieht. Indem sie die Machtverhältnisse falsch interpretieren, nehmen sich Mitarbeitende so oft ihren eigenen Gestaltungsraum. In diesen Situationen muss Bettina Teams immer wieder daran erinnern, dass sie sich den Führungsstil der MandatsträgerIn erst einmal de facto anschauen, bevor sie sich durch ihre eigenen Vorurteile selbst entmachten.
Trend: Stress führt zu Regression und Abgrenzung
So ist der gesamtgesellschaftliche Trend, demnach sich mehr und mehr absolute Perspektiven breit machen und den Raum für Bewegung, Nuancen und Gestaltung einengen, auch in der Arbeitswelt präsent.
Wir beobachten, dass Mitarbeitende aller Hierarchiestufen, die vor Kurzem noch neugierig und gestaltungsfreudig waren, resigniert sind und hinter jeder Veränderung böswillige Absichten vermuten. Menschen, die sich bislang darauf eingelassen haben, dass die Welt aus vielen Grauschattierungen besteht, ziehen sich auf falsche Polarisierungen zurück und grenzen sich mehr und mehr voneinander ab.
Belastete und gestresste Menschen neigen dazu ihre inneren und äußeren Gestaltungsräume zu verkleinern. Sie sehen sich nach Klarheit, Orientierung und Sicherheit und sind bereit für die Erfüllung dieser Bedürfnisse auf Graustufen und Spielräume zu verzichten.
Teams, die einen gesunden Beziehungsraum haben und sich ausreichend sicher miteinander fühlen, schaffen es in unserer Erfahrung besser dieses Muster zu durchbrechen. Indem sich sich untereinander Sicherheit geben, öffnen und erweitern sie ihre Gestaltungsräume und unterstützen einander, ohne das sie ihre Ängste und Befürchtungen leugnen, mehr Perspektiven und Optionen einzubeziehen.
So ist heute, mehr noch als in der Vergangenheit, die Fähigkeit uns auf uns selbst, einander und die gemeinsame Arbeit zu beziehen, die Trägerwelle für gute Zusammenarbeit, Führung und die Gestaltung unserer Organisationen.