Wenn ich durch meine Instagram Timeline blättere, erscheint es so, als befände sich die Menschheit am Abgrund eines großen psychischen Zusammenbruchs (nachvollziehbar) und die Lösung würde darin bestehen, dass wir uns mehr uns selbst zuwenden (zu kurz gegriffen). So viele Posts sprechen von Burnout und Trauma, von Bindungsängsten und Beziehungsabbruch, von Verletzbarkeit, dem inneren Kind und authentischen Selbst, von Grenzsetzung und Self Care.
In den letzten Monaten weisen auch immer mehr Journalisten wie hier in der New York Times auf eine zunehmende Tendenz hin, unser Alltagserleben zu psychologisieren. Dabei können wir zwei Tendenzen unterscheiden:
Einerseits verwenden immer mehr Menschen eine psychologische Sprache und therapeutische Konzepte, um sich und ihren Alltag zu verstehen. Sie kategorisieren ihre Mitmenschen in „Extrovertierte“ und „Introvertierte“. Diagnostizieren „Narzissten“ oder „Borderliner“. Attestieren ganzen Bevölkerungsgruppen posttraumatisches Stress-Syndrom. Ihr eigenes Verhalten, ebenso wie das autokratischer Machthaber oder Celebrities erklären sie mit Bezug auf frühkindliche Bindungsprobleme oder kollektive Traumatisierungen.
Andererseits werden unsere individuellen Bedürfnissen, nach Anerkennung, Schutz und Selbstausdruck immer prominenter herausgestellt und legitimieren viele Verhaltensweisen. Phänomene wie „quiet quitting“ (stille Kündigung, d.h. der Rückzug von Arbeitnehmern auf den minimalen Dienst nach Vorschrift) oder das kurzfristige Absagen von Terminen, werden damit rechtfertigt, dass wir uns selbst vor den Forderungen unserer Arbeitgeber ebenso schützen müssen, wie vor den Bedürfnissen unserer Freunde und Familien.
Psychologische Konzepte erweitern unsere Handlungsspielräume
Beide Spielarten dieser „Psycho-Wende“ haben positive und negative Auswirkungen. Als positiv empfinden wir die Tatsache, dass Menschen dadurch ihre Perspektive erweitern. In den Dekaden seit dem 2. Weltkrieg stand das Leistungsethos im Vordergrund. In der Wirtschaft und Gesellschaft standen Werte wie Produktivität, Effizienz und materieller Wohlstand ganz oben auf der Liste. Heute sehen immer mehr Menschen, dass Leistung und materieller Wohlstand sie nicht glücklich machen. Das Versprechen der Nachkriegs- und Baby Boomer-Generation – wenn ich nur X hätte, mir Y leisten könnte, dann wäre mein Leben perfekt – ist zerbrochen. Wenn nun unser Glück nicht im Außen liegt macht es Sinn, sich dem Innen zuzuwenden. Während frühere Generationen persönliche Entwicklung im Erwachsenenalter hauptsächlich in Form von zunehmendem Wohlstand und sozialer Anerkennung maßen, setzt sich heute die Erkenntnis durch, dass persönliches Wachstum ein lebenslanger Prozess ist in dem wir uns als Menschen verändern, neue Perspektiven dazu gewinnen und psychologisch reifen.
Wenn wir unseren „Innenraum“, also die subjektive Erfahrung des Lebens klarer benennen können und verstehen lernen, wie unsere Sozialisation uns geprägt hat, können wir dadurch unser eigenes Verhalten ebenso wie das unserer Mitmenschen besser verstehen. Indem wir „Innen“ (Bedürfnisse, Interessen, Prägungen, Werte etc.) miteinbeziehen, erweitern wir auch den Lösungsraum für Konflikte und Innovationen. Ebenso ermöglicht uns der Fokus auf Self Care, uns selbst besser kennenzulernen und unsere eigenen Bedürfnisse und Interessen ernst zu nehmen, statt sie den Forderungen anderer zu opfern. Dies ist eine wichtige Basis für unser individuelles Wellbeing und unsere Resilienz.
Psycho-Talk kann aber auch die Distanz zum Leben vergrößern
Aber die psychologisierende Analyse erlaubt es uns auch – und hier kommen wir zu den kritischen Punkten – uns von dem aktuellen Geschehen zu distanzieren. Wir fangen dann an, uns selbst und andere Menschen zu begutachten, auseinanderzunehmen und auf einer sehr tiefen persönlichen Ebene zu pathologisieren. Und all dies aus einer meist (ab)wertenden Haltung heraus, bei der wir weder mit uns selbst, noch mit anderen Menschen wirklich fühlend im Kontakt sind.
Wenn wir so auf uns und andere schauen, vergrößern wir die Distanz. So verständlich es ist, dass viele von uns einen Sicherheitsabstand zum Chaos in uns selbst, in anderen und in der Welt halten wollen, so kontraproduktiv ist diese Distanzierung zugleich. Denn wir nehmen dann Menschen nicht so wahr, wie sie sind, sondern stellen Bedingungen. „Wenn Du getriggert bist und Dich in Deiner Traumatisierung nicht auf mich beziehen kannst, dann ziehe ich mich ebenfalls zurück und schütze mich vor Dir“. Der gleiche Effekt kann eintreten, wenn wir unsere Bedürfnisse und unser Self Care vor alles anderen stellen. Immer wenn die Welt etwas zu anstrengend und unangenehm wird, ziehen wir uns dann in uns selbst zurück.
Diesen Trend sehen wir u.a. in vielen Fällen, in denen heute generisch von „Missbrauch“ die Rede ist, obwohl es sich eigentlich um „Konflikte“ zwischen Menschen mit verschiedenen Weltsichten handelt. (Dazu hat die amerikanische Autorin Sarah Schulman 2016 das lesenswerte Buch Conflict is not Abuse geschrieben)
Die Psycho-Wende mit ihrer Betonung auf Self Care und Me-Time, kann auch dazu führen, dass wir unseren Sinn fürs Gemeinwohl und unsere sozialen Beziehungen vernachlässigen. Dann ist der Radius unserer Weltwahrnehmung auf unser eigenes Ego und seine Bedürfnisse beschränkt und wir sind unfähig die unweigerlich auftretenden Spannungen zu navigieren, die ein Leben in Gemeinschaft begleiten. Wenn wir davon ausgehen, dass Authentizität sich vor allem dadurch definiert, dass ich mit mir selbst im Einklang bin, vergessen wir, dass unsere Beziehungen zu anderen Menschen es sind, die uns zu dem machen, der wir sind. Dass unsere authentische Identität untrennbar mit unserer Kultur und unseren Mitmenschen verwoben ist.
In allen diesen Fällen vergrößert der Trend der Psychologisierung die Distanz zwischen Mensch und Welt und führt damit zu Entfremdung und Vereinsamung, also zum Gegenteil dessen, worum es bei Inner Work eigentlich geht.
Inner Work in der Balance zwischen Selbst und Welt
Für uns ist Inner Work ein wichtiges Werkzeug um uns selbst und die Welt tiefer zu erfahren. Da unsere spätkapitalistische Welt voller Spannungen, Ausgrenzung und Widersprüche ist, müssen wir diese notwendigerweise mit einbeziehen. Denn wenn wir unser Wissen um psychologische Phänomene und Dynamiken dafür nutzen Spannungen in uns oder in unserer Beziehung zur Welt, aus dem Weg zu gehen, dann wiederholen wir genau die Muster und Prägungen, die zu den aktuellen Schieflagen und Stapelkrisen überhaupt erst geführt haben. Denn unsere zeitgenössische Welt ist auf Exklusion und Ausgrenzung aufgebaut und nur wenn wir uns dieser abgelehnten und unbewussten Aspekte bewusst werden und lernen, sie zu inkludieren und integrieren, können wir sie verändern.
Viele von uns fühlen sich zu Inner Work hingezogen, weil wir vom Leben überfordert sind. Doch die Lösung liegt nicht darin, die spannungsreichen Aspekte zu ignorieren und uns in uns selbst zurückzuziehen. Wir sind alle wechselbezüglich miteinander verbunden und niemand ist autonom. Deshalb führt der Weg zu Wellbeing und Heilung nicht weg von der Spannung, sondern durch sie hindurch. Hier müssen wir lernen, wie wir uns anders auf Spannung beziehen und sie konstruktiv halten können. Das ist ein innerer Reifungsprozess, der oft von Wachstumsschmerzen begleitet wird.
Vertikale Entwicklung – Spirituelle Sensibilität
Teil dieses Reifungsprozesses ist auch, dass wir erkennen, dass die psychologische Ebene irgendwann an ihre Grenzen kommt und um eine vertikale Dimension – und darunter verstehen wir eine spirituelle Sensibilität – erweitert werden muss. Im Zuge einer vertikalen Entwicklung verändern wir unseren alten Referenzrahmen, unser habituelles Spielfeld: Wir erfassen mehr Komplexität und Nuancen als zuvor und können diese auch praktisch umsetzen.
Vertikale Entwicklungsschritte zeichnen sich durch die sogenannte Subjekt-Objekt-Transzendenz aus. Was bedeutet das? Nun, es ist der Schritt, infolge dessen ich etwas, mit dem ich mich gestern noch unmittelbar identifiziert habe (welches ich als einen Teil von mir, als Subjekt, angesehen habe), als Objekt erkenne: als etwas, das ich von außen betrachten, reflektieren und damit auch verändern kann.
In der vertikalen Entwicklung öffnen wir uns der noch nicht geformten Zukunft. Wir lassen uns auf das Unbekannte ein, folgen unserer Inspiration und Intuition, um “aus der Luft eine lebendige Tradition zu greifen” (Ezra Pound, Pisaner Canto LXXXI).