Vor kurzem saß ich in einer Veranstaltung, in der ein führender deutscher Würdenträger allen Ernstes beklagte, dass erfolgreiche Unternehmen wie Shein und Temu heute nicht mehr aus Deutschland kämen, sondern aus China.
Moment. Was?
Wurde hier gerade das zerstörerischste Geschäftsmodell des 21. Jahrhunderts gelobt – als Erfolgsmodell?
Shein und Temu stehen für eine neue Form von Ultra-Fast-Fashion, die täglich Millionen von Produkten produziert und verschickt – Produkte, die oft schon nach kürzester Zeit im Müll landen. Mikroplastik, Rücksendungen quer durch Europa, illegale Schadstoffe in Kinderspielzeug, ausbeuterische Arbeitsbedingungen, systematische Umweltverstöße. Alles gut dokumentiert. Und während die französische Regierung gerade mit einem umfassenden Anti-Fast-Fashion Gesetz darauf reagiert, nennen wir das „unternehmerischen Erfolg“?
Mich frustriert diese Rückwärtsgewandtheit zutiefst. Sie zeigt sich genauso in der “Leistung muss sich wieder lohnen” Haltung. In der Art, wie das weit verbreitete Bedürfnis nach einer ausgewogeneren Life-Work Balance lächerlich gemacht wird. In der Zurücknahme von Nachhaltigkeitsstandards und Verpflichtungen zur Geschlechtergerechtigkeit.
In was für einem Ideenvakuum leben viele unserer politischen Entscheidungsträger? Offenbar weit entfernt von der Lebensrealität, den Werten und Wünschen einer breiten Mehrheit.
Arbeit jenseits des Paradigmenwechsels
Wir leben in einer Zeit, in der sich Unternehmertum und Arbeit radikal wandeln – technologisch, ökologisch, gesellschaftlich. Und wir könnten diesen Wandel gestalten. Könnten. Wenn wir eine Vision hätten.
Deshalb ist Hilary Cottams neues Buch The Work We Need (2025) so wichtig. Es zeigt, wie eine neue Kultur der Arbeit aussehen kann – fundiert, nah an der Lebensrealität von Menschen, über Branchen, Milieus und Schichten hinweg. Uber-Fahrer:innen, Werftarbeiter:innen, Unternehmensberater:innen – sie alle bringen ihre Perspektiven ein.
Cottam formuliert sechs Prinzipien für die Arbeit der Zukunft:
- Sie sichert den Lebenserhalt. Kein Mensch sollte drei Jobs brauchen, um über die Runden zu kommen. In Deutschland verdienen z.B. viele Plattformarbeiter de facto unter dem Mindestlohn. Auch viele andere Lohnarbeiter:innen fühlen sich prekär. Kein Wunder, wenn man bedenkt, dass Topgehälter in den letzten 40 Jahren um 1400% angewachsen sind, das Gehalt von durchschnittlichen Mitarbeitendenrn aber nur um 18%.
- Sie stiftet Sinn. Immer mehr Menschen fühlen sich von ihrer Arbeit entfremdet. Nicht nur Lieferando-Fahrer, sondern auch PowerPoint-Folien-schrubbende Berater:iInnen oder Ärzt:innene verlieren im Zuge der Finanzialisierung ihrer Sektoren jeden Bezug zwischen Herz, Hand und Kopf. Darüber hinaus stufen fast 30% der arbeitenden Bevölkerung ihre eigene Tätigkeit als Bullshit Job, also gesellschaftlich überflüssig und keinen Wert stiftend, ein. Cottam stellt der Karikatur des homo oeconomicus den homo integra gegenüber, einem ganzheitlichen Wesen, das einer Arbeit nachgehen will, die nicht nur das materielle Überleben sichert, sondern einen nachvollziehbaren Beitrag leistet.
- Sie umfasst Pflege und Reparatur. Pflege und Fürsorge machen uns als Menschen aus. Doch für die meisten Bürger:innen sind sie nur äußerst schwer mit ihrer Erwerbstätigkeit zu vereinen. 4.7 Millionen Deutsche pflegen Angehörige, eine Tatsache, die in unserer Arbeitskultur weitgehend unsichtbar ist. Damit Fürsorge und Arbeit zusammen passen, braucht es vorhersehbare Arbeitszeiten, sowie die Möglichkeit, flexibel auf Notfälle zu reagieren. Um dem krassen Pflegenotstand zu begegnen – schon jetzt sind über 130.000 Stellen unbesetzt – muss Pflege adäquat entlohnt und menschenzentriert organisiert werden. Wie dies geht, zeigt das niederländische Pflegeunternehmen Buurtzorg.
- Sie denkt Zeit neu. Statt lückenloser Erwerbstätigkeit wünschen sich Menschen eine flexiblere Gestaltung des Arbeitslebens, mit Zeit zum Lernen, Weiterbilden, Luftholen. Experimente zur 4-Tage-Woche zeigen: Menschen blühen auf, wenn Zeit nicht als lineare, lebenslange Erwerbskette gedacht wird, sondern als etwas Flexibles, Gestaltbares.
- Sie ermöglicht Spiel. Kreativität, Muße, Entdeckung – all das gehört zum Menschsein.
- Sie ist lokal verankert. Unternehmen, deren Führung niemand kennt, deren Sitz nirgends ist, deren Verantwortung sich ins Nichts auflöst – das erzeugt Entfremdung. Unternehmen mit einer sicheren geographischen Basis schaffen Zugehörigkeit. Sie motivieren und auf Basis dieser Infrastruktur können Arbeitnehmer und -geber gemeinsam Verantwortung übernehmen und Innovationen vorantreiben.
Cottam beschreibt, wie im Bermudadreieck von technologischer Revolution, Klimakatastrophe und wachsender Ungleichheit eine neue Arbeits- und Unternehmenswelt entstehen kann. Arbeit, als Teil eines größeren Ganzen: eines „lebens-breiten“ Lebens. Arbeit, die Entwicklung ermöglicht. Die Gemeinschaft stärkt. Die Platz lässt für Kinder, Ältere, Freundschaften, Natur. Für Spiel. Für Fürsorge. Dafür braucht es eine gemeinsame Vision und Synergien zwischen Erwerbstätigen, Unternehmer:innen, Intellektuellen und Politiker:innen.
Der beschriebene Ansatz passt zu der von mir skizzierten Vision Wachsender Räume. Aus einem erweiterten Blickfeld können neue Arbeitsformen entstehen – wenn wir alte Kategorien überwinden und mehr Realität einbeziehen. Wenn wir Pflege nicht nur als Altenpflege verstehen, sondern auch als Coaching, Zuhören, Unterstützen. Wenn wir Unternehmen nicht nur nach Umsatz, sondern nach ihrer Fähigkeit zur Beziehung bewerten.
Nichts wird sich verändern, solange wir im Mangeldenken verhaftet bleiben und Arbeit als Verteilungsproblem knapper Ressourcen betrachten. Noch dystopischer ist die gegenwärtige Aussicht, durch KI Arbeit weitgehend zu pulverisieren, einfach weil wir’s können. Und damit ein paar wenige Gewinner noch mehr gewinnen.Aber wenn wir den Rahmen weiten, mehr Realität einbeziehen, die Stimmen derjenigen hören, die arbeiten – dann wird aus Resignation Gestaltung.
Und genau das ist die Arbeit, die wir brauchen.