Eine Frage der Perspektive
Vor Kurzem saß Bettina in einem Gespräch mit einem Team, das mitten in einem Veränderungsprozess steckt. Es ging um eine große Entscheidung – und irgendwann fiel der Satz: „Wir müssen das große Ganze im Blick behalten.“*
Ein Satz, den wir oft hören. Und doch bleibt er oft abstrakt. Was genau ist dieses *große Ganze* – und wie behalten wir es im Blick, wenn wir mitten im Alltag, in Verantwortung und in Zeitdruck stehen?
Wer schaut – und von wo?
In Organisationen kreisen viele Fragen bei Entscheidungsprozessen um Verantwortung: Wer entscheidet? Wer trägt welche Rolle? Wer ist zuständig? Das ist wichtig – aber in Bettinas Erfahrung geht es im Kern um etwas Tieferes: Welche Perspektive nehmen wir in uns ein, wenn wir entscheiden oder gestalten? Schauen wir aus unserem eigenen Verantwortungsbereich auf das große Ganze – oder vom großen Ganzen aus auf unseren Bereich?
Diese innere Blickrichtung macht einen Unterschied. Sie verändert, wie wir wahrnehmen, worauf wir achten und was für uns Priorität bekommt.
Was ist das große Ganze?
Das große Ganze hat viele Namen. Wir sprechen von Vision, Purpose, Strategie oder der Perspektive der Gesamtorganisation.
Für uns ist es noch etwas anderes. Es ist die „Gestalt“, die entsteht, wenn alle Teile einer Organisation miteinander in Bewegung sind. Diese Gestalt ist lebendig – eher wie ein Mobile als wie eine Maschine. Das große Ganze verändert sich fortlaufend, weil alles mit allem verbunden ist und es ist nicht immer vorhersehbar wie die Teile sich miteinander bewegen.
Vision und Purpose geben Richtung, Strategie definiert Ziele, und die Organisation bildet die Summe aller Teile. Aber das große Ganze vereint mehr: Es verbindet das Warum, Wie und Was – und zeigt, wie sich alles in Beziehung zueinander bewegt.
Komplexität und der Wunsch nach Klarheit
Das große Ganze ist komplex – und genau das macht es herausfordernd. Wir können nicht alles sehen, nicht alles wissen. Gerade wenn wir Verantwortung tragen, wünschen wir uns Orientierung. Das ist zutiefst menschlich. Oft suchen wir uns dann – bewusst oder unbewusst – einen festen Punkt im Mobile, etwas, das wir festhalten können. Von dort aus betrachten wir das Ganze. Dieses Teilchen wird zur Brille, durch die wir alles andere sehen. So entstehen individuelle Perspektiven – jede für sich sinnvoll, aber immer nur ein Ausschnitt.
Wenn viele Perspektiven zusammenkommen
In Teams treffen viele solcher Ausschnitte aufeinander. Manchmal gelingt es, sie zu verweben – dann entsteht ein gemeinsameres Bild. Manchmal prallen sie aufeinander – jede überzeugt davon, das große Ganze zu sehen. Doch das große Ganze ist mehr als die Summe der Teile. Es ist die Summe plus X. Dieses plus X entsteht im Zusammenspiel, in der Bewegung, in dem, was zwischen uns geschieht. Um es wahrzunehmen, braucht es Offenheit für das, was wir (noch) nicht wissen. Und die Bereitschaft, uns gemeinsam auf Unsicherheit einzulassen.
Vertrauen als Grundlage
Mich unwissend zu zeigen, macht mich verletzlich. Und genau darin liegt die Möglichkeit, gemeinsam zu lernen. Wenn Teams die Perspektive des großen Ganzen in den Mittelpunkt stellen wollen, brauchen sie Vertrauen zueinander. Ein Raum, in dem wir experimentieren dürfen, in dem Lernen wichtiger wird als „Recht haben“, in dem die Perspektiven miteinander in Bewegung bleiben dürfen.
Vom großen Ganzen her entscheiden
Wenn uns das gelingt, verändert sich die Qualität unserer Entscheidungen. Wir schauen dann vom großen Ganzen aus auf die einzelnen Teile – statt nur vom einem Teil aufs Ganze.
Unsere Entscheidungen sind dann nicht nur linear vom unserem Ausgangspunkt gedacht, sondern getragen vom Bewusstsein für das Zusammenspiel und das Potenzial, das in der Organisation als lebendigem System liegt. Das große Ganze im Blick zu behalten heißt, in Bewegung zu bleiben, in uns selbst, miteinander, und im Dienst dessen, was größer ist als wir.