Grundlagen und Beispiele eines Bezogenen Aktivismus
In den beiden vorherigen Blogposts – Die selbstreflexive Wende und Trauma, Fragmentierung und Beziehungsfähigkeit habe ich zwei zentrale Thesen aufgestellt:
Zwei Thesen zum bezogenen Aktivismus
Wir (Aktivistinnen, Sozialunternehmerinnen etc.) sind Teil des Problems und das ist gut so
Aktivistische Strategien sind nur dann effektiv, wenn wir verstehen, dass wir Teil der Probleme sind, die wir versuchen zu bearbeiten. Aber was auf den ersten Blick als ein Hindernis erscheint, ist auf den zweiten Blick eine Grundvoraussetzung für effektives Handeln. Denn der Ausgangspunkt für die wirksamsten gesellschaftlichen Veränderungen ist diesem Verständnis zufolge nicht “die Welt da draußen”, sondern Veränderung beginnt bei mir als Aktivistinnen. Wenn ich davon ausgehe, dass Teile von mir untrennbar mit der Welt, so wie sie gerade ist, verstrickt sind, dann besteht mein Weg darin, diese Muster in mir so umfassend wie möglich zu verstehen und zu transformieren. Je authentischer diese neuen, ganzheitlichen Aspekte selbst verkörpere, desto wirksamer können sie sich von dort aus in der Welt verbreiten, mein Umfeld verändern und meine großen gesellschaftlichen Projekte informieren. Dieses demütige Bekenntnis, dass ich selbst Teil einer beschädigten Welt bin, ist das Gegenteil von der weitverbreiteten Hybris, die davon ausgeht, dass „wir genau wissen, wo es lang geht“ und „wir die Welt retten“.
Wir können nur die Dinge verändern, zu denen wir eine Beziehung haben
Ein bezogener Aktivismus geht davon aus, dass wir die Dinge am wirksamsten verändern können, auf die wir uns beziehen können. Nur wenn wir uns tiefer mit dem Problem verbinden, es möglichst realistisch wahrnehmen und tiefer in seiner Dynamik verstehen, können wir wirksame Strategien zu seiner Überwindung entwickeln. Ansonsten besteht die Gefahr, dass wir nicht mit der Realität, sondern mit unseren eigenen Projektionen kämpfen. In diesen Fällen werden unsere Gegenüber, die “Gegner”, sich verständlicherweise gegen den Druck wehren und ihrerseits Gegendruck erzeugen. Denn wer verändert schon seinen Standpunkt und seine Verhaltensweisen, wenn er sich nicht gesehen und ernst genommen fühlt?
Beispiele für einen bezogenen Aktivismus
Meine bisherige Recherche hat ergeben, dass der englische Begriff “relational activism” 2010 zum ersten Mal verwendet wurde. Damit wird eine Art von Veränderung beschrieben, die auf persönlichen 1:1 Beziehungen basiert und versucht, die, insbesondere seit 2016 (Brexit, Trump-Wahl) zunehmende Polarisierung in Bezug auf große, komplexe gesellschaftliche Themen durch zwischenmenschliche Qualitäten wie Empathie und aktives Zuhören zu umgehen.
Googelt man (im Oktober 2023) den deutschen Begriff Bezogener Aktivismus, passen die sechs Treffer alle nicht zu den von mir hier beschriebenen Ansätzen. Und auch die meist aus dem angelsächsischen Bereich stammenden Beispiele für “relational activism” haben einen anderen Fokus. So versuchen z.B. in der Praxis des “Deep Canvassing”, Wahlhelfer, die Überzeugungen von Bürgern durch lange, einfühlsame Gespräche zu verändern. Auch die “wiedergutmachende Justiz” (Restorative Justice) bemüht sich, die Kluft zwischen Täter und Opfer dadurch zu überbrücken, dass diese sich näher kennenlernen und ihre jeweiligen Perspektiven besser verstehen. Bei diesen Ansätzen geht es um Empathie und Beziehungen zwischen Individuen, nicht aber um eine umfassende Beziehungsfähigkeit zu sich selbst, der Zielgruppe und der Welt.
Doch seitdem ich angefangen habe diese Artikelserie zu schreiben, begegnen mir immer mehr Beispiele von Organisationen, die einen bezogenen Aktivismus nach unserer Lesart verfolgen, bzw. sich um die Grundlagen eines solchen bemühen.
Lasst mich mit meinem eigenen Umfeld anfangen. Im betterplace lab verfolgen wir seit 10 Jahren einen (selbstorganisierten) Führungsstil, der auf der Erweiterung unserer inneren Kompetenzen basiert (New Work needs Inner Work, 2019). Ausgehend von der eigenen Erfahrung mit Inner Work gestalten meine Kolleginnen eine ganze Reihe von Programmen für sozial Engagierte, NGOs, Aktivistinnen und Sozialunternehmungen, in denen Beziehungsfähigkeit und Multiperspektivität wichtige Kernkompetenzen sind.
So erforschen wir gerade mit einer Reihe von NGOs aus verschiedenen Themenbereichen, wo ihre eigenen Strategien und Dynamiken aus der Trennung entstehen, bzw. diese transzendieren. Ausgehend davon, dass wir ein neues gemeinsames Ganzes nur gestalten können, wenn wir uns auf mehr beziehen können als nur auf unsere eigene Perspektive, fragen wir sie, auf welche Teile der Welt sie sich beziehen können und welche anderen sie exkludieren und abwerten müssen? Dabei gehen wir in konzentrischen Kreisen vor: wir erforschen die Beziehung der Teilnehmer zu sich selbst, in ihren Organisationen und dem Bereich der Welt, den sie versuchen zu verändern. Welche Aspekte ihrer Selbst beziehen sie am Arbeitsplatz mit ein? Wo reproduzieren sie in ihren Organisationen unbewusst die gleichen Muster, die sie überwinden wollen (s. Anthea Lawsons Beispiel im 1. Blogpost, von Selbstausbeutung und Dominanzstrukturen in NGOs). Wie sind ihre Beziehungen zu der sozialen oder ökologischen Dynamik, die sie verändern wollen und wie stehen sie den Menschen gegenüber, die sie zum Handeln mobilisieren wollen? Sehen sie diese als gleichwertige Menschen an, oder fühlen sie sich moralisch überlegen? Können sie Menschen mit anderen Meinungen offen zuhören, oder antizipieren sie unweigerlich deren Antwort? (s. dazu den TEDx Talk Meeting the Enemy)
Ein ganz anderes, sehr eindrucksvolles Beispiel für die heilsame Kraft von Beziehungen ist die Arbeit der norwegischen Dokumentarfilmerin Deeyah Khan, die sich in ihren Filmen ganz bewusst mit Menschen mit extremistischen Haltungen auseinandersetzt. In Gesprächen mit Jihadisten und Neonazis versucht sie nicht, diese zu verändern, sondern ihre gemeinsame Menschlichkeit zu erforschen. In einem sehr hörenswerten Interview mit Thomas Hübl beschreibt Deeyah Khan diese ungewöhnlichen Begegnungen als “love in action”. Sie sagt: “Wenn ich jemandem seine Menschlichkeit abspreche, verliere ich selbst meine Menschlichkeit und trage zur Fragmentierung und Dunkelheit in der Welt bei.” Recruiter extremistischer Organisationen wissen um die Bedeutung von Geborgenheit und Anerkennung; sie werben neue Mitglieder gezielt an, indem sie sich emotional um sie kümmern und sie wertschätzen. Die Mainstream-Gesellschaft wiederum macht genau das Gegenteil und schneidet die Verbindung zu ihnen ab. Dadurch wird der Teufelszyklus von Trennung und Gewalt perpetuiert.
Eine ganz ähnliche Haltung nehmen US-amerikanische Aktivistinnen wie der Autor, Aktivist und Comedian Baratunde Thurston oder Valarie Kaur, eine bekannte Sikh-Aktivistin, Filmemacherin und Bürgerrechtsanwältin ein. Baratunde Thurston sieht seine Aufgabe darin, schwierige Realitäten bezüglich Rasse und Diskriminierung in sich selbst und in seiner Arbeit zu “verdauen”, um sie zu transformieren und neue Antworten anbieten zu können. Im Gegensatz sowohl zu polarisierenden und hyper-reaktiven Critical Race Theory Ansätzen, als auch einem defensiven Harmonie-Bedürfnis, das den Status Quo zementiert, spricht er sich dafür aus, die Gegenwart als das zu akzeptieren, was sie ist: komplex und unübersichtlich. “The whole is messy and to accept that is love”. Für den nächsten Schritt in dem hitzig polarisierten Kampf um Rassismus und soziale Gerechtigkeit, betont er die Bedeutung von Restauration und Heilung. Nur wenn wir das historische und gegenwärtige Unrecht anerkennen und uns tief mit dem Schaden verbinden, den weiße Menschen Schwarzen zugefügt haben, kann die Gesellschaft heilen und ihre kollektive Kraft entwickeln. Durch diesen Prozess werden beide, der Unterdrücker und der Unterdrückte, befreit. Mit How to Citizen verwandelt Thurston “citizen”, also “bürgern”, in ein aktives Verb um und beschreibt die Rolle von Beziehungsfähigkeit, Multiperspektivität und Machtbewusstsein für diesen kollektiven Prozess.
In eine ähnliche Richtung geht die Sikh Aktivistin Valarie Kaur mit ihrem Buch See No Stranger. Für Kaur ist “revolutionäre Liebe”, der Ruf unserer Zeit (…), eine radikale, freudige Praxis, die sich in drei Richtungen erstreckt: auf andere, auf unsere Gegner und auf uns selbst. Sie fordert uns auf, keinen Fremden zu sehen, sondern den anderen anzuschauen und zu sagen: Du bist ein Teil von mir, den ich noch nicht kenne.”
Die Haltung des bezogenen Aktivismus spiegelt sich meiner Meinung nach ebenso in der rassismuskritischen Arbeit von Tupoka Ogette wie in den trauma-sensitiven Projekten von Mehr Demokratie e.V. wieder. (Mehr zu beiden in einem späteren Blogpost, in dem ich den unterschiedlichen Umgang von NGOs mit Gruppenidentitäten beleuchten möchte).
Die Bedeutung von Wellbeing für Welldoing
Die Überzeugung, dass innere Klarheit, Beziehungsfähigkeit und Multiperspektivität der Changemaker die Basis von wirksamer Arbeit im sozialen Sektor ist, teilt auch das global agierende Wellbeing Project. Nach dem Motto „Wellbeing inspires Welldoing“ hat dieses Projekt in den letzten sieben Jahren weltweit den Grundstein für eine neue Kultur der Self Care und Selbstreflexion innerhalb Gemeinwohl-orientierter Organisationen gelegt. In einer von Selbstausbeutung und Trauma geprägten NGO-Landschaft ist die Botschaft, dass mentale Gesundheit und Wachstum keine Luxusthemen sind, sondern die unabdingliche Basis für verantwortungsvolles soziales Handeln und Aktivismus, enorm wichtig. Der Wellbeing Begriff bezieht sich dabei nicht auf hyper-individualistische, eskapistische Wellness. Wohlergehen/ Wellbeing beschreibt vielmehr eine Orientierung, ein Ziel, auf das sich Individuen, Gesellschaftsstrukturen und der Planet als solcher hinbewegen können. Wellbeing von Mensch, Gesellschaft und Planet löst das Bruttosozialprodukt als Messlatte, ständiges Wachstum, Extraktion und Ausgrenzung als akzeptable Praktiken ab. Auch wenn Wellbeing ein umfassendes Konzept ist. so beginnt es doch beim Einzelnen.
In einem Artikel über die Bedeutung von Inner Work inmitten von Stapelkrisen habe ich vor kurzem auf eine Gruppe von NGOs hingewiesen, die sich sehr bewusst mit Trauma und Heilung beschäftigen:
Tausende von zivilgesellschaftlichen Organisationen weltweit, von NGOs wie Black Lives Matter bis Sozialunternehmer-Netzwerken wie Ashoka haben sich in den letzten Jahren ihrer eigenen Lebensbasis zugewandt. Sie haben den Platz in sich erforscht, von dem aus sie aktivistisch und sozial-unternehmerisch tätig werden. Dabei haben sie herausgefunden, dass viele ihrer Strategien und Überzeugungen auf ihren eigenen individuellen und kollektiven Traumatisierungen basieren. Denn wenn die eigene Persönlichkeit verletzt ist und man einen harten Panzer aufgebaut hat, um sich zu schützen, dann wird man der Welt nicht offen und bezogen gegenüberstehen. Dann muss man Feindbilder erzeugen und in ein Wechselspiel von Druck und Gegendruck eintreten, welches die Welt nicht verbessert, sondern weiter fragmentiert und zerstört.
Auf diese Erkenntnis aufbauend haben diese Organisationen angefangen, sich mit Selbstheilung zu beschäftigen. da Traumata und Verletzungen vor allem auch im Körper und Nervensystem sitzen, fingen Organisationen wie Black Lives Matter an, sich intensiv mit somatischen Therapien und dem Zusammenspiel von strukturellem Rassismus, Körper und Emotionen auseinanderzusetzen und ihren Mitgliedern dieses neue Wissen und neue Praktiken zugänglich zu machen.
Da Trauma sich direkt aufs Nervensystem auswirkt, haben sich schwarze Aktivistinnen wie Prentis Hemphill ganz bewusst somatischen Therapieformen wie Somatic Experiencing zugewandt und diese in ihre sozialen Bewegungen integriert. Dabei geht es nicht darum, Therapien und Selbsterfahrung als “Coping Strategien” einzusetzen, die das kollektiv verursachte Leid auf einer individuellen Ebene erträglich machen sollen. Vielmehr sind sich die Vertreter des bezogenen Aktivismus bewusst, dass ihre eigene Heilung und neue, psychologisch sichere Formen der Gemeinschaft die Transmissionsriemen für gesamtgesellschaftliche Veränderungen sind. Während sie ihre persönlichen Muster erweitern und neue Beziehungen eingehen, metabolisieren und aktualisieren sie die größeren Strukturen, deren Teil wir alle sind.
Bezogener Aktivismus ist kein Kuschelkurs
Die Form von bezogenem Aktivismus, über die ich hier schreibe, ist keine verkappte Harmonie-Ideologie. Es ist möglich, sehr unterschiedliche Ansichten zu haben und dennoch das Gegenüber in seiner/ihrer Menschlichkeit anzuerkennen und fühlend im Kontakt zu sein. Wir können uns aufeinander beziehen, wenn wir die Komplexität der Welt insoweit verinnerlicht haben, dass wir wissen, dass niemand und nichts ausschließlich schlecht oder gut ist. Wie Baratunde Thurston sagt: “The whole is messy and to accept that is love.”
Beziehung ist die Trägerwelle und der Raum, in dem dann die unterschiedlichsten Bewegungen ablaufen können, von denen viele nicht harmonisch, nett und einfach sind. Genau deshalb wollen wir uns ja um sie kümmern. Im Beziehungsraum erwerben wir ein tieferes Verständnis des Status Quo, werden uns bewussten und unbewussten Überschreitungen und Verletzungen gewahr, tauschen teilweise diametral entgegengesetzte Perspektiven, Bedürfnisse und Interessen aus. Beziehungsfähigkeit und Multiperspektivität sind keine Strategien an sich, sondern Haltungen und Kompetenzen, auf Basis derer wir eine große Bandbreite von Aktivitäten entwickeln können, von konfrontativen Formaten wie strategischen Rechtsstreitigkeiten und Demonstrationen, über zivilem Ungehorsam und Boykotts bis hin zu Awareness Kampagnen und offenen Dialogen.
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Wie eingangs beschrieben, nutze ich diese Blogposts auch zu meinem eigenen Verständnis und zur Selbstklärung. In folgenden Artikeln möchte ich z.B. die Rolle von Gruppenidentitäten für aktivistische Haltungen und Strategien erforschen.
Ich freue mich über eure Gedanken und Rückmeldungen zu diesen Themen.
Stay tuned!
Danke an Bettina Rollow und Barbara Djassi für eure hilfreichen Kommentare zu einer früheren Version dieses Textes.
Eine englische Fassung der drei Blogposts findet ihr hier.