Grenzerfahrungen erforschen

Illustration generiert mit Midjourney
Illustration generiert mit Midjourney

Vor ein paar Wochen veranstalteten Bettina und ich für die TeilnehmerInnen der 1. Kohorte unseres Online Kurses Die Entfaltete Organisation (die 2. Kohorte startet im September! Setz dich hier auf die Warteliste und erfahre als Erste*r, wenn du dich anmelden kannst) ein Live Webinar zum Thema Grenzerfahrung. 

Gemeinsam mit einer wunderbar engagierten Gruppe erforschten wir Fragen wie: Was ist eine Grenze? Woran merke ich, dass ich an eine Grenze gekommen bin? Welche Strategien entwickle ich, um Grenzerfahrungen zu vermeiden oder abzumildern? Aber auch: Was kann mir helfen, meine Grenzen erfolgreich zu erweitern und auszudehnen?

Das Thema interessiert uns gerade heute so sehr, weil wir in einer offensichtlich sehr herausfordernden Zeit leben, in der viele Menschen das Gefühl haben, an Grenzen zu stoßen. Eine Zeit, der ihnen die Kontrolle über ihr Leben entgleitet, die Eindrücke von außen überhandnehmen, ihre gewohnte, “normale” Welt bedroht ist. Das zeigt sich in Burnout Statistiken, individuellen Erfahrungen von großem Druck, Überforderung und Sinnlosigkeit, ebenso wie schnellen Trigger-Reaktionen und schrumpfenden Toleranzzonen. 

 

Wie fühlen sich Grenzerfahrungen an?

Unsere TeilnehmerInnen trugen eine ganze Bandbreite von persönlichen Reaktionen an der Grenze zusammen: sie erleben großen emotionalen Druck und intensive Angst. Überwältigende äußere Erfahrungen füllen sie innerlich so aus, dass kein Platz mehr für andere, differenzierte Wahrnehmungen ist. Die Perspektive verengt sich, manchmal so stark, dass es nur noch ums Überleben zu gehen scheint. Sie müssen sich total auf eine Sache fokussieren, alles andere ist zu viel. Das erinnert mich an eine Wanderung mit Bettina im Himalaya im Jahr 2017: Beim Überqueren eines 5400 Meter hohen Passes geriet ich so ans Limit, dass ich nur noch atmen und einen Schritt vor den anderen setzen konnte. Als ich versuchte, ein Kaugummi zu kauen, überstieg das meine körperliche und psychische Kapazität. Die Grenze war erreicht, jede andere Bewegung war zu viel.

Die geschilderten Grenzerfahrungen haben meist eine solch ausgeprägte körperliche Dimension: sie gehen mit Gefühlen von Starrheit, Verkrampfung, ja auch mit Schwindel, Übelkeit oder Kopfschmerzen einher. 

Wir beleuchteten, welche Verhaltensstrategien wir in solchen Grenzsituationen entwickeln. Manche unserer Teilnehmerinnen erzählten, dass sie unkontrolliert essen, andere wiederum sind so nervös, dass sie keinen Bissen herunter bekommen. Einige zogen sich total in sich zurück, andere suchten den direkten Kontakt mit Freunden und Familie, wiederum andere versuchten, sich möglichst geschickt mit Entertainment abzulenken.

Meine Grenze muss nicht Deine sein

Was in unserem Gruppenaustausch deutlich wurde: Grenze ist nicht gleich Grenze. Was mich überfordert, mag für Dich nur fordernd oder sogar einfach sein. Um zu der bereits erwähnten Trekkingtour zurückzukommen: auf der Passüberquerung trafen wir eine junge Frau, die seit Jahren Trailrunning praktizierte. Für sie waren die 5400 Höhenmeter ein Kinderspiel. Nach kurzer Pause rannte sie zum nächsten Dorf weiter. Grenzen entstehen dort, wo wir entweder auf Neues treffen, oder mit etwas Altem konfrontiert sind, mit dem wir noch nicht umgehen können, weil uns das dazu notwendige Verständnis, die geeignete Kapazität oder Fähigkeit fehlen. Je weiter wir uns von dem entfernen, was für uns “normal” ist, was wir verstehen und als Teil unserer Realität sehen, um so eher stoßen wir auf Grenzen. 

Was geschieht an der Grenze zwischen mir und Menschen mit anderen Meinungen?

In einer weiteren Runde reflektierten wir, zuerst in kleinen Gesprächsgruppen, dann im Plenum, welche Erfahrungen wir an gesellschaftlichen und ideologischen Grenzen machen. Wenn wir mit Perspektiven, Haltungen und Handlungen konfrontiert sind, die unseren eigenen Überzeugungen widersprechen. Stichwort: Corona, AfD, Ukraine-Krieg. Wo tauchen Grenzen in uns auf? Wie nehmen wir diese Grenzen innerlich wahr?  Welche Mechanismen haben wir entwickelt, um uns vor zu viel Andersartigkeit zu schützen, da sie unsere eigene Identität und unser Sicherheitsgefühl bedrohen? 

Hier boten wir den TeilnehmerInnen einige der Schutzmechanismen zur Selbsterforschung an, die wir von Held Collective, einem herausragenden britischen Facilitatorenteam, kennengelernt hatten. Zu den Strategien gehören u.a. Reduktionismus, Überlegenheit und Bestrafung. So reduzieren viele von uns als “fremd” wahrgenommene Personen auf eine einzige Facette ihrer Identität (so dass queere/schwarze/geflüchtete Personen, dann nur als solche wahrgenommen werden). Oder neigen wir dazu, uns selbst zu überheben, uns als “besser”, “wertvoller” oder “richtiger” zu empfinden und damit andere Personen oder Gruppe abzuwerten. Vielleicht tendieren wir aber auch dazu, die als “zu anders” empfundenen Personen zu bestrafen, indem wir sie ausschließen, sanktionieren etc.? Manche Menschen reagieren aber auf Andersartigkeit auch genau andersherum: sie suchen die “Fehler” nicht in der Außenwelt, sondern werten sich selbst ab, suchen Fehler bei sich. 

 

Komfort – Inspirations- und Terrorzone

Unsere Fähigkeit, mit Veränderungen und Neuem um Arbeitsumfeld umzugehen, haben Bettina und ich schon oft mit dem Bild der Komfortzone, Inspirationszone und Terrorzone beschrieben.

In der Komfortzone fühlen wir uns wohl, Ressourcen und Anforderungen stehen in einem ausgewogenen Verhältnis, bzw. oft übersteigen unsere Fähigkeiten und Kapazitäten die von außen an uns herangetragenen Aufgaben. Das kann gemütlich, aber auch etwas langweilig sein. In der Inspirationszone verlassen wir dann dieses allzu bekannte Terrain, fühlen uns aber innerlich ausreichend stabil und ressourciert, um auf Neues neugierig zu sein, uns inspirieren zu lassen und daraus resultierende Veränderungen gut zu bewältigen. Wir sind in der Lage, uns neuen Situationen anzupassen, wenn wir merken, dass das gewohnte Verhalten nicht mehr das gewünschte Ergebnis bringt. In diesem Bereich können wir experimentieren und lernen. Das Verhältnis zwischen Ressourcen und Anforderungen dreht sich jedoch in der Terrorzone um. Hier sind wir einfach nur überwältigt und reagieren oft mit Flucht oder Angriff (flight or fight), bzw. regredieren zu früheren oder einfacheren psychologischen Dynamiken. In dieser Zone geht es uns meist nur darum, unser Nervensystem zu schützen und zu regulieren.

Zwischenzeit als permanente Grenzerfahrung

Die Auseinandersetzung mit Grenzerfahrungen ist so wichtig, weil wir in einer Zeit zwischen den Paradigmen leben, in der Grenzerfahrungen immer mehr die Norm werden. Die Logiken des Industriezeitalters greifen nicht mehr, sondern erzeugen immer mehr Krisen. Doch die Haltungen, Werte, Praktiken, die zu dem neuen digital-globalen Zeitalter passen, haben sich noch nicht herausgebildet. In einer solchen Zwischenzeit funktionieren viele unserer “normalen” Annahmen und Verhaltensformen nicht mehr. Es entsteht eine Dissonanz zwischen außen und innen: zwischen äußeren Herausforderungen und unserer inneren subjektiven Wahrnehmung und Struktur. Wir sind mehr und mehr herausgefordert, uns in unserem Inneren zu verändern. Grenzen, die zu eng geworden sind, um die komplexe Realität zu beinhalten (in uns abzubilden), zu erweitern. 

Was braucht es, damit wir uns als Menschen in einer zunehmend komplexen, schnelllebigen, hochgradig vernetzten Gesellschaft zurechtfinden? Wie können wir unsere Nervensysteme, die Sicherheit aus stabilen, vorhersehbaren Situationen beziehen, so weiterentwickeln, dass sie von einer Welt voller unkontrollierbarer, nicht-linearer Bewegungen und Prozesse nicht überflutet und überwältigt werden, sondern lernen, darin zu navigieren und in der Vielfalt der Perspektiven aufzublühen? Wie können wir uns individuell und gesellschaftspolitisch auf mehr Realität beziehen, mehr Vielfalt inkludieren?

Das Thema der Grenzerfahrung wird uns noch viel beschäftigen und wir freuen uns darauf, dies mit euch weiter zu erforschen.

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