Die Metakrise Oder Welche Zukunftspfade stehen uns offen? Teil 3

Illustration generiert mit Midjourney

Welche Zukunftspfade ergeben sich aus den verschiedenen Annahmen über die Ursachen?

Je nachdem, ob wir die tieferen Ursprünge der Krisen in einer zunehmenden Komplexität und der damit verbundenen Adaptionsfähigkeit der bestehenden Systeme (Polykrise) sehen, oder von einer tieferen Metakrise ausgehen, (dazu Teil 2 dieser Serie) die auf verletzten Bewusstseins- und Wahrnehmungsmustern basiert, werden wir sehr unterschiedliche Lösungsansätze entwickeln. 

Die Soft Reform Space – Retten und Kontrollieren

Vororten wir uns in der Polykrise, werden wir versuchen die kognitiven Entscheidungskompetenzen von PolitikerInnen, Unternehmern oder Aktivistinnen zu verbessern. Wir werden bemüht sein, die bestehenden Strukturen und Prozesse zu optimieren und nachhaltiger zu gestalten. Dieser von Vanessa Machado de Oliveira in Hospicing Modernity (2021) als „soft reform space“ beschriebene Pfad ist der am weitesten verbreitete. Im Grunde sagt er: “Weiter so, aber bitte grüner, menschlicher und effizienter.“ 

In seinem Buch At Work in the Ruins (2023) beschreibt Dougald Hine, einer der Autoren des Dark Mountain Manifestes, diesen Ansatz. Die Mehrzahl der Entscheidungsträger, Vertreter von Green Growth, Nachhaltigkeitsberatungen, Impact Investoren etc. weltweit geht davon aus, dass wir die Welt „retten“ können, indem wir nur die richtigen Technologien einsetzen und neue Geschäftsmodelle und Politiken auf Basis möglichst umfassender Daten entwickeln. In diesem Bild ist die Welt ein Fischtank, in dem Menschen möglichst viele Parameter kontrollieren, um die Lebenskonditionen zu managen und optimieren. Diese Gruppe wiegt sich in der Gewissheit, dass wir „das Klimaproblem in den Griff bekommen“ oder „Regulierungen künstliche Intelligenz zähmen“ werden. Die Welt, so wie sie ist, wird sich weiterentwickeln, nur höher, schneller, größer und besser werden. 

Gegen diesen möglichst-alles kontrollieren-Ansatz ist einzubringen, dass viele der Technologien, die uns retten sollen, noch gar nicht entwickelt sind, sondern nur als theoretische Möglichkeiten oder Prototypen vorhanden sind. Der Ansatz übersieht auch, dass wir Kategorien verwechseln: viele der gegenwärtigen Krisen stellen keine lösbaren Probleme dar. Sie sind vielmehr die Folgen aus Lösungen, die für vorherige Krisen entwickelt wurden.

Ein einfaches Beispiel dafür ist die Grüne Revolution in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sie zielte darauf ab, Nahrungsmittelknappheit, niedrige landwirtschaftliche Erträge und ländliche Armut zu bekämpfen, was durch den Einsatz neuer Technologien und Hochertragssorten teilweise gelang. Allerdings führte dies zu Umweltproblemen wie Bodenverschlechterung und Wasserverschmutzung sowie zu sozialer Ungleichheit und Abhängigkeiten von Agrarchemikalien. Aktuelle Lösungen wie nachhaltige Landwirtschaft, Biotechnologie und Präzisionslandwirtschaft zielen darauf ab, diese Probleme zu beheben, bringen jedoch neue Herausforderungen mit sich. Nachhaltige Methoden sind oft kostenintensiv und weniger ertragreich, während Gentechnik und Digitalisierung ethische Fragen und Abhängigkeiten von großen Konzernen aufwerfen. Diese Dynamik zeigt, dass jede Lösung, die innerhalb des gleichen Paradigmas entsteht, neue Probleme erzeugt, die wiederum weiterer Innovationen und Anpassungen bedürfen.

Manage & Control widerspricht auch allem, was wir über komplexe Systeme wissen: diese lassen sich nämlich nicht kontrollieren. Schon in den 50er Jahren betonte Gregory Bateson, einer der frühen Visionäre der Komplexitätstheorie, dass nur komplizierte Systeme total kontrolliert werden können. In komplexen Systemen kennen wir nie alle Bestandteile und Interdependenzen und müssen stattdessen Faktoren wie Ungewissheit, Überraschung und das Entstehen völlig neuer Formen (Emergenz) einbeziehen. In komplexen Systemen ist Kontrolle bestenfalls eine Illusion und im schlimmsten Fall ein Missbrauch lebender Systeme. Bateson fordert uns auf, aus dem mechanistischen Traum aufzuwachen, in dem die Welt kontrollierbar und korrigierbar ist. Denn die primären Einheiten von Realität sind nicht isolierte Faktoren und Dinge (hier können wir den Bogen zu McGilchrist schlagen), sondern Beziehungen und Verbindungen. Neues entsteht aus dem Gewebe des Ganzen. Ein einprägsames Bild ist, das eines Embryos, dem Herz, Leber, Augen nicht hinzugefügt werden, sondern aus dem Ganzen emergieren und sich dann individualisieren. Alles Organische erwächst aus Beziehungsgeflechten.

In einer komplizierten Welt können wir bei Krisen und Problemen fragen: „Was müssen wir tun?“ In einer komplexen Welt sind wir Teil der Welt als Resonanzraum. In dieser Welt gibt es keine einfachen Lösungen, sondern verschiedene mögliche Pfade. Manche davon sind passender, erscheinen uns stimmiger als andere. Wobei diese Wörter, Passung und Stimmigkeit, ebenfalls auf Resonnanzbeziehungen basieren.

Radical Reform Space – Mehr Inklusion und soziale Gerechtigkeit

Neben dem einer Autobahn gleichenden Soft Reform Pfad der Krisenbewältigung, in den die meisten Gelder, Gedanken und Identitäten von Unternehmen, NGOs, Regierungen und Verwaltungen investiert sind, gibt es noch einen kleineren, von Vanessa Machado de Oliveira als Radical Reform Space bezeichneten Weg. Auf ihm engagieren sich insbesondere AktivistInnen dafür, die vielfältigen Dominanzstrukturen (die vielen -ismen, wie Sexismus, Abelismus, Rassismus, Klassismus etc.) aufzubrechen und allen Menschen ein Leben in Würde und Teilhabe zu ermöglichen. Sie fordern einen tiefgreifenden strukturellen Gesellschaftswandel, inklusive einer substantiellen Inklusion und der Neuverteilung von Ressourcen. 

Innerhalb dieses Reformpfades gibt es verschiedene Abzweigungen. Manche stellen die Prämissen der Moderne, inklusive Fortschritt und universellen Werten nicht per se in Frage, sondern sind bemüht, diese von toxischen Machtstrukturen zu befreien und inklusiver zu machen. Andere, teilweise mit indigenen Bevölkerungen verbunden, sprechen sich gegen den menschlichen Exzeptionalismus aus. Sie sehen Menschen nicht als Herrscher über Natur, sondern als integralen Bestandteil dieser. In diesem Bild ist der Mensch mit allen anderen Lebensformen verbunden und wird aufgefordert, als Teil dieses umfassenden Systems neue Antworten zu finden. Viele Vertreterinnen dieses Pfads fokussieren sich auf lokale Gemeinschaften, Basisdemokratie und ökologische Wirtschaftsweisen, z.B. in Form von Permakultur. Allerdings sind nicht alle Antworten, die aus diesem Raum kommen notwendigerweise „progressiv“. Sie können auch die Form von reaktionären Nationalismen annehmen.

Jenseits der Reform – den Verfall begleiten

Eine weitere Antwort, die sich unter anderem auch im Dark Mountain Manifesto und Vanessa Machago di Olivera’s Buch Hospicing Modernity findet, geht davon aus, dass die Welt, so wie sie heute ist, nur noch in ihrem Verfallsprozess begleitet werden kann. Aus dieser Perspektive sind unsere Krisen keine korrigierbaren Fehler, denn Ausbeutung und Hierarchisierung von Leben sind Grundbestandteile der modernen Weltanschauung. Erst wenn wir diese dekonstruieren und ihre Manifestationen – in uns und in der äußeren Welt – demontieren, kann ein neuer Raum entstehen, innerhalb dessen neue Antworten auftauchen, die für das Leben auf dem Planeten adäquater sind. 

Da die Moderne integraler Bestandteil unserer Identitäten und Weltsicht ist, besteht unsere Aufgabe darin, sie zuerst einmal in uns zu erforschen, beispielsweise indem wir uns fragen: Wie wirken die Glaubenssätze der Moderne in mir? Woher stammen meine Arroganz oder meine Selbstzweifel? Wie fließen sie in mein Verhalten und meine Mitgestaltung von äußeren Strukturen ein? 

Im Rahmen dieser Selbsterforschung können wir eine Inventur des Lebens vornehmen: welche Aspekte der Entwicklungen der letzten Jahrhunderte sind gut, was möchten wir übernehmen und weiter kultivieren, was aber auch verwerfen und transzendieren? Zu dieser Haltung gehört auch ein bewusster Umgang mit Trauer. Ein Nachspüren und Wertschätzen von allem – indigenem Wissen und Lebensformen, Artenvielfalt etc. – was unwiderruflich verloren gegangen ist oder gerade stirbt.

Die Zukunftspfade in mir

Ich kann allen diesen Zukunftspfaden etwas abgewinnen. Zu lange war ich Teil des sanften Reformpfades, der auf technologische Innovation, Gemeinwohlorientierung und stückweise Verbesserung setzt. Ich kenne den energetisierenden Sog einer Bewegung, die sich als Teil der Zukunft sieht und über ausreichende Ressourcen für deren Umsetzung verfügt, zu gut, als das ich mich über ihn erheben könnte. Und da ich es für unwahrscheinlich halte, dass dieser Mainstream-Ansatz in den nächsten Jahren signifikant an Zugkraft verliert, erscheint es mir sinnvoll punktuell darauf einzuwirken, dass die in diesem Feld entstehenden Unternehmungen und Ideen, Prinzipien wie Potentialentfaltung, Diversität oder Ressourcenschonung einbeziehen. Da ich jedoch nicht an den langfristigen Erfolg dieses Pfads glaube, bringe ich mich heute weniger ein als zuvor.

Auch für die radikale Reform von Dominanzstrukturen, den zweiten Pfad, habe ich Sympathien. Auseinandersetzungen rund um Privilegien und Intersektionalität, unter anderem in dem von mir mitbegründeten brafe.space Netzwerk (und unterstützt von Held Collective), zählen zu meinen wichtigsten Lernerfahrungen der letzten Jahre. Sogar den Rückzug ins Lokale, in die Natur und in Gemeinschaft – ein Weg, der mir vor kurzem noch fremd war – kann ich nachvollziehen. Doch erscheint es mir unrealistisch, dass sich eine ausreichend große Menge von Menschen auf diesen Weg einlassen werden, ohne dazu von massiven Katastrophen gezwungen zu werden. 

Wenn wir weder auf unserem jetzigen Kurs bleiben können, noch in eine überschaubare Vergangenheit zurückkehren können, kann der dritte Pfad, die bewusste Sterbehilfe für unsere heutige Welt, ein notwendiger und sinnvoller Teil des gegenwärtigen Paradigmenwechsels sein. Die Arbeiten von Dougald Hine und Vanessa Machado di Olivera haben mir eine neue Perspektive auf unser Dilemma eröffnet und geholfen, zentrale Glaubenssätze meines Lebens zu hinterfragen. Ebenso leuchtet mir ein, dass wir erst sehr viel verlernen müssen, bevor wir Neues entwickeln können, das nicht die Muster der Vergangenheit reproduziert.

Räume der Entfaltung und Offenbarung

Letztendlich überzeugen mich jedoch alle Pfade nicht, denn sie präsentieren sich als Wahl zwischen Alternativen. Doch haben wir eine Wahl? Gibt es eine Welt, die wir „verändern“ und „retten“ können? 

Ein Gedankenexperiment

Dazu ein Gedankenexperiment (adaptiert von Hine 2023).

Stelle Dir vor, es ist das Jahr 1750 und Du lebst in einem der relativ wohlhabenden Dörfer Zentralenglands. Du triffst auf jemanden aus dem Jahr 1900 und der beschreibt, dass sich deine  Welt in nur wenigen Jahrzehnten total verändern wird. Jedes Haus im Dorf wird runtergerissen. Die Bauern wohnen in trostlosen urbanen Slums und arbeiten für Hungerlöhne in Fabriken, wo sie Wolle für die englische Textilindustrie herstellen. Deren Profite machen eine neue, kleine Klasse von Industriellen so reich, wie es sich 1750 niemand vorstellen kann. Dein Land wird zu einem weltweiten Imperium, dem British Empire, dessen Bürger Militärdienst leisten und zu Hunderttausenden in fernen Ländern ihr Leben lassen müssen. Andere werden ihre Heimat verlassen, über den Atlantik fahren und in den amerikanischen Kolonien einer ungewissen Zukunft entgegengehen.

Wie sollst Du als Dorfbewohnerin auf diesen Blick in die Zukunft reagieren? 

Du und Deine Zeitgenossen stehen vor keinem „Problem“, denn dieses impliziert, dass es eine Lösung gäbe. Doch ihr werdet den Lauf der Geschichte nicht verändern können. Ihr seid in einer Zwangslage, der ihr nicht ausweichen, sondern mit der ihr nur auf unterschiedliche Arten umgehen könnt. Viele Antworten sind möglich, keine ist die „richtige“ und keine wird dazu führen, dass ihr euren Lebensstil behalten werdet. 

Holen wir dieses Szenario ins Jahr 2024. Ein Besucher aus der Zukunft kommt zu uns und berichtet aus dem Jahr 2200. Er beschreibt eine uns fremde Welt. Wenige KI-erweiterte Herrscher dominieren das Gros der Menschen. Automatisierte Armeen und Polizisten kommen auf Knopfdruck zum Einsatz. Nur wenige Menschen teilen die gleichen Vorstellungen von Realität. Stattdessen füttern Horden von superintelligenten Agenten, ihre Zielgruppen mit fein auf deren Mindsets abgestimmten Informationen. Bewusstsein ist nicht mehr nur an Menschen gekoppelt, sondern hat sich Silikon und andere Trägerstoffe gesucht. Das Klima ist teilweise kollabiert und auf den einzelnen Kontinenten sind unterschiedliche künstliche Habitats entstanden, ebenso wie Lebensstationen im All.

Was könnten wir heute tun, um dieses Szenario zu verhindern? Zeigt nicht der Gang der Geschichte, dass sich die Welt unabhängig von unseren individuellen Wünschen und Bedürfnissen entwickelt, egal wie einflussreich wir sind? Und inwieweit sind unsere heutigen Kriterien und Projektionen dafür geeignet, die Zukunft zu bewerten? Was wir 2024 als „normal“ ansehen, hätte sich für einen Bauern um 1750 sehr wahrscheinlich in vielerlei Hinsicht als abschreckende Dystopie angefühlt. Was uns im Jahre 2200 erwarten wird, ist uns heute im Zweifel ebenso fremd und furchterregend.

Eine mystische Perspektive auf Zukunft

Was folgt daraus, wenn ich:
1. Die Analysen der Metakrise ernst nehme und Wahrnehmungs- und Bewusstseinsmuster in den Mittelpunkt meiner Überlegungen stelle?
2. Weder davon ausgehe, dass sich die Zukunft maßgeblich willentlich von uns beeinflussen oder mit unseren heutigen Maßstäben bewerten lässt?
3. Überzeugt davon bin, dass wir in Komplexität nie vom Resultat aus denken können und –  statt große, neue Theorien aufzustellen, die wir versuchen umzusetzen – nur einzelne nächste Schritte gehen können?

Welche Haltung kann ich vor dem Hintergrund dieser Parameter einnehmen und welche Handlungen folgen daraus?   

Ich möchte den Versuch unternehmen, eine Antwort zu geben, die für viele von euch  weit entfernt von eurem Weltbild erscheinen mag. Mir selbst wäre es bis vor einigen Jahren jedenfalls so gegangen. Doch im Zuge meiner langjährigen kontemplativen Praxis bei dem Weisheitslehrer Thomas Hübl und vielen Diskussionen und Explorationen in kleineren Gruppen, kann ich mich anhand dieser Perspektive sinnvoll in meinem eigenen Leben verorten. Ich “glaube” sie nicht unkritisch, sondern nutze sie als Arbeitshypothese für die verschiedensten Situationen. Dabei hilft mir, dass viele herausragende Philosophen, Psychologen und Physikern, von Alfred North Whitehead und Henri Bergson über William James bis Erwin Schrödinger und Wolfgang Pauli, sich der Frage nach den tieferen Strukturen von Realität mit sehr ähnlichen Hypothesen genähert haben.

Im mystischen Verständnis sind Menschen nicht die Krönung der Schöpfung, die die Welt „retten“ oder autonom eine Welt nach ihrem Willen gestalten. Zukunft ist vielmehr ein co-kreativer Prozess zwischen Mensch und Welt, in dessen Rahmen sich beide entfalten. Dieser evolutionäre Prozess folgt bestimmten Prinzipien, von denen ich einige skizzieren möchte. Jedes dieser Prinzipien ließe sich beliebig breit ausweiten. Ich werde sie aber der Lesbarkeit halber nur kurz umreißen.

Prinzip No 1 – Die Welt ist nicht falsch, auch wenn sie tief in der Krise ist

Ein mystisches Grundprinzip ist, dass unsere heutige Welt nicht „falsch“ ist, auch wenn sie tief in der Krise steckt. Sie folgt ihrer Eigendynamik und von dieser sind wir Menschen nicht getrennt. Es besteht keine Kluft zwischen uns und dem Kosmos, sondern wir sind untrennbar mit der kosmischen Entwicklung verbunden.

Wenn wir nach Ursachen für die Metakrise suchen, dann geht es nicht um eine Schuldzuweisung. Sondern die Einsicht, dass unsere Vorfahren das Beste gegeben haben, wozu sie fähig waren. Sie haben bewundernswerte wissenschaftliche Erkenntnisse erlangt, sie haben Glanzleistungen in Kunst und Kultur hervorgebracht, sie haben das Leben in vielen Dimensionen entlang ihrer gegebenen Kapazitäten weiterentwickelt. Sollten wir heute in einigen Bereichen mehr Überblick und mehr Perspektiven haben, dann ergibt sich daraus eine neue Verantwortung, weiser zu handeln. 

Prinzip No 1 – Die Welt ist nicht Ressource, sondern Resonanzraum

Im mystischen Verständnis ist die Dualität zwischen Mensch und Kosmos aufgehoben. Statt Krönung der Schöpfung, ist der Mensch in ein viel umfassenderes Geschehen eingebunden, das er nur zu einem kleinen Teil verstehen und vor dem er sich in Demut verbeugen kann. Jeder Anspruch auf vollkommene Kontrolle ist dementsprechend nicht nur unmöglich, sondern auch anmaßend und überheblich. Die Welt ist nicht unsere Ressource, sondern unser Resonanzraum. Sie besteht nicht aus isolierten Teilchen, die wie eine Maschine zusammengesetzt sind, sondern die Beziehungen zwischen Teilen sind primär. Neues entsteht nicht, indem wir Bestehendem etwas additiv hinzufügen, sondern emergiert aus dem Ganzen. Geradeso wie oben beschrieben: die Organe eines Embryos werden diesem nicht hinzugefügt, sondern erwachsen aus dem Organismus als solchem. 

Prinzip No 3 – Wir können Dinge nur verändern, wenn wir uns auf sie beziehen können

Wenn alles, was sich für uns als individuell und getrennt anfühlt, in Wirklichkeit eng miteinander verwoben ist, dann können wir die Welt nur verändern, wenn wir uns auf sie beziehen und mit ihr in Resonanz gehen. Wenn wir die Verbindung zwischen uns und der Außenwelt mehr fühlen können und sehen, wie tief wir mit der äußeren Realität, die wir verändern wollen, verwoben sind. Es gibt in diesem Bild kein „System da draußen“, das wir verändern oder verbessern können. Stattdessen können wir die kollektiven Strukturen in uns selbst identifizieren und tiefer verstehen, wie sie in uns wirken und wie wir sie oft unbewusst reproduzieren. Die Veränderung startet nicht „da draußen“, sondern „hier in mir“. Indem wir mehr in uns beinhalten können – insbesondere auch sich vermeintlich widersprechende Positionen – transzendieren wir die Polaritäten und Trennungen unserer Welt. Die Welt wächst, sie wird größer und mehr miteinander verbunden und dadurch entfaltet und verändert sie sich. 

Prinzip No. 4 – Mit dem sein, was ist

In der kontemplativen Praxis bemühen wir uns darum, uns der Realität so umfassend wie möglich zu öffnen. Uns auf die Welt so einzulassen, wie sie gerade ist. Denn Realität ist ganz und will als solche wahrgenommen werden. Das bezieht sich auf unbewusste und abgespaltete Teile in mir als Individuum, ebenso wie auf marginalisierte und diskriminierte Gruppen und Qualitäten in unserer Gesellschaft, als auch auf unsere Beziehung zur Natur und Schöpfung an sich. 

Doch da die Geschichte der Menschheit auch die Geschichte von Trauma und Überforderung ist und unsere Nervensysteme wesentliche Aspekte der Realität ausblenden, leben wir nicht in einer einheitlichen, sondern in einer fragmentierten Welt. Diese abgespaltenen, ausgeblendeten, ungefühlten Teile der Welt wollen erkannt und integriert werden. Sie machen uns auf sie aufmerksam, indem sie uns als alle möglichen Symptome und Krisen verfolgen. 

Prinzip No 5 – Bottom-Up Innovation durch Integration abgespaltener Anteile

Krisen, Probleme und Schwierigkeiten sind demzufolge keine Hindernisse, sondern Hinweisschilder für Themen, mit denen wir uns beschäftigen müssen. Dort, wo die Welt leicht und flüssig ist, ist schon genügend Bewusstsein vorhanden. Aber dunkle Aspekte – Gier, Narzissmus und Machtmissbrauch, Armut, Verbrechen, Leid und Scham – werden sich nur verändern, wenn wir uns ihnen zuwenden und sie in unserem Bewusstsein inkludieren (was nicht heisst, das wir sie gut heißen). Schwierigkeiten lassen sich nicht bewältigen, in dem wir sie umgehen, sondern indem wir sie annehmen, integrieren und transzendieren. Probleme stehen uns nicht im Weg, sie sind der Weg.

Aus dieser Perspektive macht es total Sinn, wieso unsere Gesellschaft so eingefahren ist und sich nicht schneller verändert. Wieso wir unserem Wissen zu Klimawandel, Polarisierung und Ungleichheit, Überwachungskapitalismus und Einsamkeitspandemie keine adäquaten Taten folgen lassen. Denn wir sind so verkrustet, fühlen so wenig und haben den Status Quo normalisiert, dass wir unsere aktuelle Lage zwar bedauern, aber in unserem inneren Selbstverständnis keine andere Wahl treffen können. Erst wenn wir uns durch diese Verkrustungen, die sich als Druck, Enge, Schwierigkeiten und Probleme zeigen, durcharbeiten, können wir wieder flüssiger werden und unsere äußere Welt stimmig entlang unseren inneren Vorstellungen und Werte gestalten. Die eigentliche Krise ist unsere Taubheit und Abwesenheit. Sie verhindert, dass wir unsere Außenwelt zeitnah und flüssig entlang den aktuellen Bedürfnissen adaptieren.

Indem wir abgespaltene Teile der Welt als unsere erkennen und integrieren, defragmentiert und vergrößert sich die Welt. Diesen Prozess beschreibt Hübl als Bottom-up Innovation. Wir gestalten Zukunft also nicht, indem wir zeitlich nach vorne schauen, Visionen entwickeln und dann versuchen, diese in die Realität umzusetzen, sondern indem wir uns tiefer mit der realen Gegenwart verbinden und durch Traumata gefrorene Anteile wieder verflüssigen und beweglich ins Leben integrieren. 

Konkret kann das so aussehen, dass wir unser Sein jenseits von Leistung, sozialer Position oder anderen Merkmalen erforschen und unsere Kompensations- und Überlebensmechanismen liebevoll aufdecken. Innere Arbeit bedeutet auch unsere Beziehungsfähigkeit zu vertiefen und besser zu verstehen, wo wir uns nicht beziehen können und dadurch Teil der Fragmentierung und Entfremdung sind. Wir können unsere subtile Wahrnehmung schärfen und uns in Gruppen von Gleichgesinnten darin unterstützen, so wie hier beschrieben.

Prinzip No 6 – Purpose als Magnet für Top-down Innovation

Neben dieser Bottom-up Innovation durch die Re-Integration abgespalteter Anteile, gehen viele Weisheitstraditionen ebenso wie spirituell interessierte Philosophen und Wissenschaftler davon aus, dass dem Kosmos eine bestimmte Entwicklungsdynamik inhärent ist, die von Menschen als latente und potentiale Bewegungen erkannt und in Form von Ideen und Visionen, Strukturen und Prozessen, Haltungen und Handlungen manifestiert werden können. Die latente Zukunft kommuniziert mit denen, die es wagen zuzuhören. Das Verbindungsglied zwischen diesem evolutionären Potential und dem es manifestierenden Mensch können wir mit dem Begriff Purpose beschreiben. 

Purpose fungiert wie ein Magnet, an den wir uns andocken können. Derart orientiert können wir präziser im Leben zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein und von dort aus beitragen. Anders formuliert: Purpose ist unsere Verbindung mit einem subtilen Informationsfluss, der uns leitet und entlang dessen wir die Zukunft manifestieren. In diesem Verständnis sind Menschen nicht autonome Wesen, die aus ihrem Willen heraus die Zukunft gestalten. Sondern sie fungieren wie Hebammen, die eine latent vorhandene Zukunft in konkrete Formen und Strukturen bringen. In diesem Prozess surfen wir in der Komplexität einer Zukunft, die gerade im Entstehen ist, immer am Rande dessen was wir noch erfassen können und nutzen unsere Intuition und kontemplative Praxis als Navigationsinstrumente. Neues emergiert und entfaltet sich in diesem Raum weniger als aktives Tun, sondern in Form von Einsichten oder Offenbarungen, die wir in Demut empfangen und umsetzen. In einem sehr lesenswerten neuen Artikel beschreiben Otte Scharmer und Eva Pomeroy die dabei involvierten Sense Making Kompetenzen als “Fourth Person Knowledge”.  Diese  Perspektive der vierten Person, taucht zwar in uns als Individuum auf, ist aber nicht unser Werk, sondern etwas das “gleichzeitig in uns, zwischen uns und außerhalb von uns ist”.

Prinzip No 7 – Top-down Innovationen durch Einsichten und Offenbarungen

Der Pfad der Einsicht und Offenbarung sprengt herkömmliche Kategorien. Er ist ein Pfad, der über das Mentale und das Rationale hinausgeht, diese aber inkludiert. Bewusstseinsveränderungen, so unvorhersehbar sie sind, können ein völlig neues Paradigma hervorbringen. Das Christentum ist eine Offenbarungsreligion. Die Wahrheit wird vom brennenden Busch gesprochen. Es brachte das römische Reich zum Fall, indem es eine andere Form der Liebe, ein anderes Sein in der Welt, eine andere Form an der Schöpfung teilzuhaben, erfahrbar machte. Historiker und Religionswissenschaftler beschreiben, wie es im gleichen Zeitraum, vor ca. 2500 Jahren, in anderen Teilen der Welt zu vergleichbaren Bewusstseinsveränderungen kam, repräsentiert durch Figuren wie Buddha und Konfuzius. Wie in diesem sogenannten Achsen-Zeitalter, während derer große Teile der Welt sich von mythischen Vorstellungen abwandten und dem Logos, der Vernunft und Rationalität zuwandten, sollten wir die Möglichkeit einer radikalen Neuausrichtung unserer heutigen Welt nicht ausschließen.

Prinzip No 8 – Offen für neue Ausdrucksformen

Für wirklich Neues gibt es oft noch kein passendes Vokabular, denn wie sollte es eine Sprache für etwas geben, das noch nicht im Bewusstsein der Menschen aufgetaucht ist? Es kann sogar sein, dass sich viele Aspekte dieser neuen Realität, in die wir hineinwachsen, gar nicht angemessen mit Worten beschreiben lassen, da Sprache, Dichtkunst ausgenommen, an Rationalität geknüpft ist. Meine Freundin und somatische Coach Rivka Halbershtadt geht davon aus, dass dieser neue Raum teilweise post-verbal ist und es geht darum, wahrgenommene Bewegungen subtil miteinander zu teilen.

Prinzip No 9 – Leben als immerwährender Prozess

Das Leben in dem hier beschriebenen Paradigma fühlt sich sehr anders an, als wir es herkömmlich gewohnt sind. Eine Besonderheit ist, dass wir nicht mehr in Ergebnissen und Zielen denken und handeln, sondern uns auf den (Entfaltungs)Prozess des Lebens einlassen. Wir messen unser Leben, inklusive gesellschaftliche Entwicklungen, nicht an ihrem Ergebnis, sondern lassen uns darauf ein, der Eigenbewegung des Lebens Schritt für Schritt zu lauschen und diese zu manifestieren. Dadurch verschiebt sich unsere Vorstellung von den Zielen, die wir erreichen wollen: es zählt weniger, was wir als Individuum in der nächsten Dekade oder als Unternehmen im nächsten Jahr erreichen möchten, sondern wir lassen uns von der Passgenauigkeit und Stimmigkeit des Prozesses an sich leiten, wobei niemand weiss, wohin uns dieser Prozess hinführen wird. Was mich besonders fasziniert ist, dass es in diesem Verständnis nicht darum geht irgendetwas schneller machen zu wollen. Entwicklungen, die viel mehr Realität einbeziehen und realistisch sehen, zu welchen Veränderungsbewegungen die einzelnen Akteure fähig sind,  brauchen die Zeit, die sie brauchen. Wie es das Bon Mots sagt: Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht. 

Neue Räume für neue Einsichten

Viele unter denen, die die Metakrise erforschen und Pfade in eine Zukunft kontemplieren, die die Vergangenheit nicht in neuem Gewand wiederholt, fragen sich, was heute geeignet ist, existierende Kategorien zu überwinden und einen Bewusstseinswandel einzuleiten. Woher können essentiellen Einsichten kommen und unsere Kultur und Menschheit transformieren? Wie können Menschen sich heute wieder ins Sein und in die Schöpfung verlieben? Welche Räume können wir bereitstellen, in denen wir uns neu beziehen – auf uns selbst, auf einander als Gemeinschaft und Gesellschaft, auf den schöpferischen Kosmos? Räume, in denen wir die Vielfalt von Informationen verdauen, uns auf mehr Facetten und Perspektiven einlassen, Abgespaltenes integrieren und Neues downloaden können? In denen wir uns nicht weiter auspowern, weil wir von der Energie des Egos abhängig sind, sondern uns aufladen, weil wir an eine metaphysische Starkstromanlage angebunden sind?

In den letzten Jahren habe ich mich darauf konzentriert, genau solche Räume selbst zu schaffen oder zu Bestehenden beizutragen. 

Darunter fällt brafe.space, eine wachsende Gemeinschaft, in der wir die Bedeutung von Beziehungsfähigkeit und Multiperspektivität als Grundlage von Innovationen im Unternehmertum und Finanzsektor erforschen. Bei innerwork.online reflektieren Bettina Rollow und ich (u.a. auch mit Anjet Sekkat und Jana Schmitz) die Rolle von inneren Kompetenzen für Selbstorganisation und Führung, aber auch für die allgemeine Lebenspraxis und bieten hierzu online Praxisräume für Gruppen an. Meine Kolleginnen im betterplace lab gestalten vergleichbare Räume, in Form von Programmen und Veranstaltungen für zivilgesellschaftliche Organisationen, Aktivistinnen und Changemaker. Zu Beginn dieses Jahres habe ich Maison Marcelle, eine Residency für Künstlerinnen, Aktivistinnen und Meditierende in Südfrankreich aufgebaut, in der Menschen die Gelegenheit haben, sich soweit wie möglich abseits ihrer vorgeformten Alltage neu zu erfahren. Zudem würde ich auch meine Engagements im Rahmen der Church of Interbeing, sowie das Wellbeing Project, das Pocket Project und die Sangha rund um Thomas Hübl in diese Kategorie einordnen.

In allen diesen Räumen begegnen wir uns selbst und einander in einer höheren Auflösung und in Anerkennung eines schöpferischen Kosmos. Wir versuchen unsere Haltungen, Bedürfnisse, Konventionen und Gewohnheiten bewusster zu reflektieren und kritisch zu hinterfragen. Statt schnell zu handeln, setzen wir uns mit Verlernen und Nichtwissen auseinander. Wir bemühen uns dem Leben als Prozess zu folgen und mit dem zu sein, was ist. Statt Veränderung im Außen zu erzwingen, beginnen wir damit, ungeliebte kollektive Muster in uns zu bezeugen und zu verdauen. Statt die Realität nur mental zu erfassen, versuchen wir, mehr Intelligenz und Daten – auf der körperlichen, emotionalen, intuitiven, spirituellen Ebene – einzubeziehen. Wir erforschen, was wir erfahren und was wir empfinden können, ebenso wovon wir uns abwenden und abwehren. Statt Exklusion und Abwendung als Fehler zu begreifen, ergründen wir, wofür sie uns mal nützlich waren. Denn meistens haben wir uns taub gestellt oder andere Verteidigungsmechanismen entwickelt, um uns vor noch tieferen Verletzungen und Gefühlen der Überforderung zu schützen. Indem wir das, was uns jetzt im Wege steht, nicht als falsch, sondern als Funktion anerkennen, vertiefen wir nicht den Mangel oder eine kritische Selbstsicht, sondern erkennen unsere Kompetenz an. Wir erforschen, was es bedeutet, sich tiefer mit der Gegenwart zu verbinden und mystische Prinzipien in unsere Lebenspraxis und unsere äußeren Manifestationen zu integrieren.

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